01.09.2010

Beitrag von Tilman Zülch zur Anhörung beim Innen- und Rechtsausschuss und beim Europaausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtages

Schleswig-Holsstein beraten über Aufnahme von Sinti und Roma als schutzberechtigte Minderheit in die Verfassung

Göttingen

Beitrag von Tilman Zülch, Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International (GfbV), zur Anhörung beim Innen- und Rechtausschuss (34. Sitzung) und beim Europaausschuss (15. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am Mittwoch, dem 1. September 2010, 14 Uhr, zum Gesetzesentwurf der Fraktion von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und SSW / Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Artikel 5 Abs. 2 Satz 2 mit folgender Fassung: "Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung".

 

Das Landesparlament Schleswig-Holsteins hat im Rahmen des Übereinkommens zum Schutz der nationalen Minderheiten von 1998 erfreulicherweise der dänischen Volksgruppe und der nordfriesischen Sprachgemeinschaft Verfassungsstatus verschafft. Das war ein großer Schritt vorwärts. Ein Wermutstropfen war jedoch, dass damals die Volksgruppe der in Deutschland schon seit dem 14. Jahrhundert ansässigen Sinti und Roma nicht berücksichtigt wurde. Das soll jetzt geschehen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker begrüßt das sehr und dankt dem Südschleswiger Wählerverband der dänischen Minderheit sowie dem Nordfriesischen Institut dafür, dass sie diesen Gesetzentwurf unterstützt haben. Der Gesetzentwurf hat nach Auffassung unserer Menschenrechtsorganisation nicht nur Vorbildcharakter für Deutschland, sondern ist auch ein wegweisendes Zeichen für die Verwirklichung der Rechte alteingesessener Nationalitäten und Sprachminderheiten in den Ländern der EU.

Die folgenden Auszüge aus der Befragung von SS-Standartenführer Ohlendorf durch US-Ankläger J. Heath während der Nürnberger Prozesse verdeutlichen, was Angehörige dieser Volksgruppe früher durchleiden mussten:

Heath: … und was ist mit den Zigeunern? Ich glaube, Sie haben keine Vorstellung wie viele Zigeuner Ihr Kommando umgebracht hat.

Ohlendorf: Nein, das weiß ich nicht.

Heath: Aus welchem Grund töteten Sie die Zigeuner? Einfach deshalb, weil es Zigeuner waren? Waren sie eine Gefahr für die Sicherheit der Wehrmacht?

Ohlendorf: Es ist ebenso wie mit den Juden.

Heath: Zeigt die europäische Geschichte auch, dass die Zigeuner an der politischen Strategie und den Feldzügen teilgenommen haben?

Ohlendorf: Sie hatten Spionageorganisationen während der Kriege. … Ich möchte Sie an die ausführlichen Beschreibungen des 30-jährigen Krieges von Ricarda Huch und Friedrich Schiller erinnern.

 

Auf dem Junkernfriedhof in Göttingen, neben dem Grab meiner Schwiegereltern, DDR-Flüchtlingen aus Magdeburg, liegt Alois Kos, Sinto aus dem Sudetenland. Als ich ihn kennenlernte, als die Gesellschaft für bedrohte Völker im Frühjahr 1979 ihre Menschenrechtskampagne für Sinti und Roma begann, war er ein Staatenloser. Eng verbunden mit dem Lande Schleswig-Holstein ist seine Familiengeschichte. Im Lager für "Displaced Persons" in Flensburg lernte er seine Frau kennen. Auch sie hatte ihre Familie verloren, auch ihre Verwandten hatten wie alle Angehörigen von Alois das Konzentrationslager nicht überlebt. In einem KZ war sie sterilisiert worden. Alois heiratete sie, und die beiden adoptierten ein schwer behindertes Sintikind, das ebenfalls allein übrig geblieben war. Wie hunderten anderen deutschen Sinti, auch aus Ostpreußen, Schlesien und sogar aus dem Rheinland, raubten deutsche Innenbehörden Alois Kos nach 1945 ein zweites Mal die Staatsbürgerschaft. Er hatte zwar den Holocaust überlebt, aber seine Ausweispapiere waren auf der Strecke geblieben. Erst als die Gesellschaft für bedrohte Völker für ihn bei dem damals sehr hilfsbereiten Ministerpräsidenten Ernst Albrecht intervenierte, bekam Alois sein Recht zurück. Seine Tochter wurde später Leiterin des Göttinger Sinti-Büros.

Ich möchte heute hier einer vor kurzem verstorbenen friesischen Sinti-Menschenrechtlerin gedenken: Martha Dambrowski. Ihre ostpreußische Sinti-Familie - die Männer angesehene Pferdehändler, die Frauen als Kleinbäuerinnen tätig - wurde von einem österreichischen Gestapomann ins KZ Bialystok in Polen verschleppt. Die zweijährige Tochter starb dort. Die Wiedergutmachung betrug später 19 DM. Eine Unterschriftensammlung des ostpreußischen Heimatdorfes erzwang die Rückkehr. Die schwerkranken Großeltern erholten sich dank der Solidarität der Dorfbewohner. Die Familie Dambrowski flüchtete wie viele überlebende Sinti-Familien des früheren Ostdeutschlands mit den anderen Deutschen, erreichte Ostfriesland. Martha Dambrowski, ihre drei attraktiven Töchter, ihr Mann Paul wurden in der Region bekannt. Martha wurde zur Sprecherin der Sinti-Bürgerrechtsbewegung, die jahrzehntelang auch in der Gesellschaft für bedrohte Völker aktiv war. Martha hatte eine besondere Sensibilität für die Opfer von Flucht und Vertreibung, die ja nach 1945 die Hälfte der schleswig-holsteinischen Bevölkerung ausmachten und deren überwiegend traurigen Schicksale heute auch hier von den meisten verdrängt statt bewältigt zu werden.

So möchte ich daran erinnern, dass die "Zigeuner" in der Bundesrepublik bis 1979 noch schrecklich diskriminiert wurden. Der größte lebende deutsch-jüdische Philosoph Prof. Ernst Tugendhat aus Brünn stellte dem Rowohlt-Band "In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt" in seinem Vorwort die Feststellung voran: "Im Dritten Reich galten wir Juden als Untermenschen. Die Zigeuner aber werden noch heute als Untermenschen, zwar nicht offen bezeichnet, aber empfunden und behandelt". Das hat die Gesellschaft für bedrohte Völker, später unterstützt vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma, verändert.

Mit der inzwischen historischen Kundgebung für die Sinti und Roma unter Schirmherrschaft der jüdischen Präsidentin des Europäischen Parlaments Simone Veil am 27. Oktober 1979 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen und mit dem bisher einzigen weltweiten Roma-Kongress in Göttingen, unterstützt von Simon Wiesenthal und Indira Ghandi, änderte unsere Menschenrechtsorganisation die Situation dieser deutschen Volksgruppe. Wir bewegten Bundeskanzler Schmidt und Bundespräsident Carstens zur Anerkennung dieses Teils des Holocaust. Wir erreichten 1979-1982 eine mehrjährige intensive Berichterstattung aller deutschen Medien über den Holocaust an Sinti und Roma. Wir setzten die Eigenbezeichnung "Sinti und Roma" in der deutschen Öffentlichkeit durch, die GfbV-Publikationen wurden in Schulbüchern aller Bundesländer zitiert, der Wiedereinbürgerungserlass für deutsche Sinti und Roma durch Bundesinnenministerien sowie die Finanzierung selbstverwalteter Beratungszentren der Sinti und Roma in einer Reihe von Bundesländern kamen zustande. Die Sinti-Verbände setzten diese Arbeit erfolgreich fort.

Auch in Schleswig-Holstein schlossen sich Sinti zusammen. Matthäus Weiß wurde ihr profilierter Sprecher. Ein unbestechlicher Mann, dem es immer um die Sache seiner Leute ging. Weiß hat sich kontinuierlich weitergebildet, überzeugt durch sein Engagement und seine Unabhängigkeit. Ein großer Schritt voran ist übrigens das überzeugende, gelungene und umfangreiche Bauprojekt für die Kieler Sinti.

Noch einmal: Wir danken den Parlamentariern Schleswig-Holsteins, wir danken den friesischen und dänischen Institutionen des Landes, dass Sie diese Verfassungsänderung unterstützen. Und wir wissen das Engagement vieler Abgeordneter und Politiker in diesem Zusammenhang zu schätzen.

Erlauben Sie mir schließlich eine kurze Bemerkung für den Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen beim Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtages Wulf Jöhnk, der nach mir zu Wort kommen wird und dem ich für seine Präsenz ausdrücklich danken möchte. Um es mit den Worten von Prof. Tugendhat zu sagen: De facto "als Untermenschen behandelt" werden weiter die 30.000 Roma aus dem Kosovo, seit 10 bis 20 Jahren Flüchtlinge in Deutschland, mit ihren hier geborenen Kindern, auf unseren Schulen. 70 ihrer 75 Dörfer und Stadtteile wurden niedergebrannt, unter den Augen der NATO, auch der deutschen Soldaten. Die Roma mussten flüchten. Nicht wenige erlitten Folter, Tod oder Vergewaltigung. Dass sie in Deutschland meist fast zwei Jahrzehnte lang nicht arbeiten, dass ihre Kinder keine berufliche Ausbildung absolvieren und sie alle ihre Landkreise nicht verlassen dürfen, gibt Tugendhat einmal mehr Recht. Soweit meine Zwischenbemerkung.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker übrigens, die die Kontingentaufnahmeregelung für die 200.000 Juden, 2,5 Millionen Russlanddeutschen und neuerdings 2.500 irakischen Christen sehr zu schätzen weiß, meint, dass es selbstverständlich sein muss, für diese 30.000 Roma aus dem Kosovo eine Kontingentlösung zu erlassen. Denn im Hintergrund stehen vor unseren Augen die 500.000 ermordeten Sinti und Roma des Dritten Reiches.

Tilman Zülch ,

Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International

 

Zur Person Tilman Zülch und seinen Bezug zu Schleswig-Holstein

Gründer der Gesellschaft für bedrohte Völker, einer internationalen Menschenrechtsorganisation mit beratendem Status bei der UN und mitwirkenden Status beim Europarat. Er ist mit Schleswig-Holstein verbunden, als Flüchtlingskind dort aufgewachsen, war zwei Jahre auf der Insel Föhr ansässig, hat seit 1954 einen Zweitwohnsitz auf Amrum/Nordfriesland. Er war zunächst beteiligt an den Bemühungen des italienischen Politikers Arfe zur Schaffung eines europäischen Nationalitätenrechts, war dann deutscher Sprecher des "European Office for Lesser Used Languages", bemühte sich erfolgreich um die Teilnahme der Vertretungen der Dänen und Nordfriesen an dieser Initiative, initiierte dann die Teilnahme des Zentralrats deutscher Sinti und Roma und knüpfte 1989/90 erste Kontakte für die Sorben zu Politikern und Nationalitätenvereinigungen. Zülch gehört auch zu den Schirmherren der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen". Er ist Herausgeber von neun Büchern zu Problemen ethnischer und religiöser Minderheiten, Herausgeber der Zeitschrift "Pogrom" und wurde mit neun Menschenrechtspreisen ausgezeichnet. Zülch ist Ehrenmitglied der "Mütterbewegung von Srebrenica", der Vereinigung der weiblichen Lagerhäftlinge in Bosnien-Herzegowina und des Verbandes der Opfer des Stalinismus von Sachsen-Anhalt.

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