19.07.2005

Bedürfnisse der Indigenen werden ignoriert

Neuer Waldkodex in Russland

Göttingen/Genf
Einleitung

Ein neuer Waldkodex soll die Waldnutzung in Russland reformieren. Kernpunkt dieses umfangreichen Gesetzespaketes ist die Privatisierung von Waldflächen. Bislang war der Staat alleiniger Besitzer des Waldes. Das Waldgesetz setzt konsequent die Linie fort, die schon im Landgesetz (Land Code) von 2001 deutlich wurde: das Gewohnheitsrecht der ansässigen Bevölkerung, Land, Weiden und nun auch Wald kostenlos für die unmittelbare Selbstversorgung zu nutzen, wird ausgehebelt. Solche Gebiete sollen nun gekauft oder gepachtet werden, das gilt auch für selbst errichtete Gebäude im Wald. Von dieser Art rücksichtsloser Privatisierung werden insbesondere die Ureinwohner Russlands in Existenznot getrieben. Sie haben zu einem Leben aus und mit dem Wald oft keine Alternative. Der Zusammenbruch der sowjetischen Kollektivwirtschaft hat die meisten um ihre Lohnarbeitsplätze gebracht. Sie haben in der Regel nicht die Mittel, um Land oder Wald zu pachten oder gar zu kaufen. Die Gruppe der Investoren, die es sich leisten kann, in diesem gnadenlosen Wettkampf um Land und Ressourcen mitzubieten, ist klein. Die große Mehrheit derer, die auf Jagen, Sammeln, Fischen angewiesen sind, um nicht zu verhungern, droht buchstäblich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch anstatt bei neuen gesetzlichen Regelungen auf die besonderen Bedürfnisse der Ureinwohner oder indigenen Völker Russlands einzugehen und ihnen ein Überleben mit ihren alten Traditionen und Wirtschaftsformen zu sichern, nimmt die Regierung Putin ihnen die wenigen Rechte, die sie im Rahmen der Perestroika bekommen hatten.

Indigene in Russland - Bedeutung des Waldes für die traditionelle Lebensweise

Alle Gesetze, die in den letzten Jahren die Indigenen betreffend erlassen wurden, haben eines gemeinsam: Bestimmungen zu ihrem Schutz werden im Konjunktiv formuliert und - da ohne Ausführungsbestimmungen verabschiedet - bislang nie umgesetzt. Das für die Indigenen äußerst wichtige Gesetz über die "Gebiete traditioneller Naturnutzung", d.h. Gebiete in Selbstverwaltung von indigenen Gemeinschaften, ist dafür ein gutes Beispiel: Nachdem sich schon in einigen Regionen solche Gebiete gebildet hatten, wurde das Gesetz plötzlich auf Eis gelegt und die Gebiete wurden wieder aufgelöst.

Ein anderes Beispiel ist das 400 Seiten starke Gesetz zu Veränderungen in der föderalen Gesetzgebung der Russischen Föderation. Es hat gleich mehrere Artikel zum Schutz indigener Rechte abgeschafft. Aus dem Gesetz zu den Rechtsgarantien für indigene kleine Völker der Russischen Föderation wurden Art. 4 zur sozio-ökonomischen und kulturellen Entwicklung, die Artikel 6 & 7 über den Schutz des ursprünglichen Lebensumfeldes, der traditionellen Lebensweise, Wirtschaft und Handwerk der kleinen Völker sowie Art. 13 über das Mitbestimmungsrecht indigener Völker in den Gremien der Legislative entfernt. Das Gesetz wurde am 22. August 2004 von Präsident Putin unterzeichnet.

In Sibirien leben rund 40 verschiedene indigene Völker mit etwa 200.000 Angehörigen. Nur noch 10 % von ihnen pflegen noch heute ihre traditionelle nomadische Lebensweise. Vor 30 Jahren waren es noch etwa 70 %. Viele sind Rentierzüchter. Jagd, Sammeln von Pilzen, Beeren, Wurzeln oder Kräutern sind weitere Mittel der Existenzsicherung. Saubere Flüsse und damit eine intakte Umwelt sind Voraussetzungen für den Fischfang. Holz ist der wichtigste Baustoff und einzig verfügbares Heizmaterial. Der Wald ist für die meisten Ureinwohner außerdem ein spiritueller Ort. Ohne den Wald können sie als eigenständige Völker mit einer eigenen Geschichte, Kultur und Wirtschaftsform nicht überleben. Sie haben das sensible Ökosystem Wald Jahrhunderte lang gepflegt und geschützt, ihr Wissen in der Bewahrung des Waldes ist von unschätzbarem Wert.

Doch Ölförderung, Uran-, Diamanten- und Ölabbau und nun das neue Waldgesetz, der Waldkodex, machen ihnen ihre Heimat zusehends streitig. Die verheerenden Folgen zeigen sich heute in einer durchschnittlichen Lebenserwartung, die 20- 25 Jahre unter derjenigen der übrigen russischen Bevölkerung liegt, in Problemen wie Alkoholmissbrauch, Kriminalität und kultureller Entwurzelung.

Der neue Waldkodex

Der neue Waldkodex hat das Ziel, die endlos scheinenden russischen Wälder wirtschaftlich zu nutzen und mit dem Rohstoff Holz Profit zu erzielen. 25 % der weltweiten Waldbestände bzw. 70 % aller borealen, d.h. euro-sibirischen und nordamerikanischen, Wälder liegen in Russland. Der boreale Wald besteht vorwiegend aus Nadelbäumen. Diese Waldgebiete nehmen eine Fläche von 882 Millionen Hektar ein. Das ist ein Drittel des russischen Territoriums. Fast 85 % davon liegen östlich des Urals. Nur zwei Prozent des Waldes stehen unter Naturschutz.

Wald wird in Russland vom Ministerium für Naturressourcen verwaltet, ein Umweltministerium gibt es nicht. Russische Regierungspolitiker wollen den Wald nun sehr viel intensiver kommerziell nutzen als bisher. Privatisierung gilt als Schlüssel zum Erfolg. Der Holzeinschlag soll drastisch gesteigert werden. Bislang, so bemängelt der Leiter der Föderalen Agentur für Forstwirtschaft des Ministeriums für Naturressourcen der Russischen Förderation, werden nur 21% der genehmigten 550 Millionen Kubikmetern Holz pro Jahr abgeholzt. 51,5 % aller russischen Exporte kommen aus diesem Sektor, d.h. Holz ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in Russland überhaupt. Ziel der politisch Verantwortlichen ist es, auch die Weiterverarbeitung von Holz im Land zu halten. Zusätzlich wird eine große Menge Holz illegal geschlagen. Besonders Chinas Rohstoffhunger führte in den letzten Jahren dazu, dass entlang der 4.000 km langen russisch-chinesischen Grenze Holz in großem Maßstab in die Volksrepublik geschmuggelt wird.

Die indigenen Völker der Russischen Förderation befürchten, dass ihnen durch das neue Gesetz der Zugang zum Wald, ihrer Lebensgrundlage, entzogen wird. Die meisten von ihnen leben unter der Armutsgrenze und sind auf die Früchte des Waldes angewiesen. Art. 27 des neuen Kodexes geht auf die besondere Situation der indigenen Bevölkerung Russlands ein. Er besagt, dass ihre traditionelle Nutzungsweise des Waldes gewährleistet sein soll. Auch dies ist aber wieder nur eine "Kann-Bestimmung", denn es gibt ebenso wie beim bereits erwähnten Gesetz über die traditionelle Landnutzung keine Ausführungsbestimmungen für dieses Gesetz. Die Indigenen haben daher keine Möglichkeit, ihre Rechte wirksam einzufordern.

Die neue Fassung des Waldkodex wurde im April 2005 von der Duma in der ersten Lesung angenommen, obwohl etliche seiner Artikel zur geltenden russischen Gesetzeslage im Widerspruch stehen Die endgültige Abstimmung soll am 19. September 2005 erfolgen.

Das geplante Nutzungsrecht für Waldflächen soll für eine Laufzeit von zehn bis 99 Jahren vergeben werden. Dieses Recht wird versteigert: Der Startpreis soll sich nach dem staatlichen Preis pro Kubikmeter Holz richten. Den Zuschlag wird der Meistbietende erhalten. Im Vorschlagstext fehlen Hinweise auf die ökologische und soziale Verantwortung der neuen Waldbesitzer. So ist das Risiko groß, dass Naturschutzgebiete in Nutzflächen umgewandelt werden könnten.

Der Waldbesitzer oder Pächter hat das Recht, Dritten den Zugang zu seinem Besitz zu gestatten oder zu verbieten. Der neue Kodex weitet das Recht, Wald zu roden. Möglich ist überdies, dass Ölfirmen große Stücke Wald kaufen könnten, um dort unter Umgehung der Umweltbestimmungen Pipelines zu bauen.

Der Kodex differenziert nicht zwischen unterschiedlichen Waldqualitäten. So werden Umweltschutzgebiete, Waldstücke, die als grüne Lungen in unmittelbarer Nachbarschaft großer Städte liegen, Wasserschutzgebiete, etc. nicht besonders ausgewiesen oder geschützt.

 

Forderungen

1. Der UN-Sonderberichterstatter für indigene Belange soll sich mit dem Beratungsprozess für den Waldkodex befassen und dem russischen Parlament wie der russischen Zentralregierung "best practice" – Beispiele, die indigene Waldnutzung demonstrieren, vorstellen.

2. Das momentane Gesetzgebungsverfahren soll ausgesetzt werden, um eine unabhängige, mit internationalen Experten besetzte Kommission, eine Analyse der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen des Waldkodexes auf die Lebenswelt der Indigenen in der Russischen Föderation vornehmen zu lassen.

3. Traditionell von Indigenen besiedelte Waldstücke müssen vom russischen Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Verletzbarkeit der indigenen Lebensweise durch einen im Waldkodex verankerten Mechanismus ohne Kauf an die jeweiligen indigenen Gemeinschaften übereignet werden.