12.12.2008

Auslandsbischof der EKD "Tu deinen Mund auf für die Stummen!"

Rede von Martin Schindehütte

Martin Schindehütte

"Tu deinen Mund auf für die Stummen" (Sprüche 31, 8). Jene biblische Aufforderung aus dem biblischen Buch der Sprüche gilt uns allen, denen die im christlichen Glauben gebunden sind und denen, die aus anderen inneren Gründen zur Solidarität und zum Handeln gerufen sind. Entwürdigung, Gewalt, Terror, Völkermord machen stumm. Zuerst die, die unmittelbar betroffen sind. Oft auch die, die das mit ansehen müssen. Um so wichtiger ist es, dass die, die zum Handeln befreit sind, ihren Mund auftun, öffentliche machen, wo massives Unrecht geschieht und Menschen an Leib und Leben bedroht sind und Schaden nehmen.

So danke ich Ihnen , sehr geehrte Damen und Herren, für die Einladung und Gelegenheit, am 60. Jahrestag der UN-Konvention gegen Völkermord ein Grußwort für die Evangelische Kirche in Deutschland zu sprechen. Ich danke der Gesellschaft für bedrohte Völker als Initiatorin dieser Gedenkveranstaltung und freue mich, dass Sie diesen Ort des Berliner Doms gewählt haben. Damit verbinde ich zugleich den Dank, dass die Gesellschaft für bedrohte Völker anlässlich ihres 40jährigen Bestehens diesen wichtigen Meilenstein für einen humaneren, den Menschenrechten und der Menschenwürde verpflichteten Umgang von Staaten mit nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Minderheitsgruppen in den Blick der Öffentlichkeit rückt. Denn an der Notwendigkeit, über Völkermord bzw. Genozid, der mit der UN-Konvention zum Straftatbestand des Völkerrechts geworden aber mittlerweile auch in vielen nationalen Rechtsordnungen als solcher kodifiziert ist, öffentlich zu sprechen, kann angesichts der vielen leidvollen Erfahrungen trauriger Weise nach wie vor kein Zweifel bestehen.

Bevor ich Stellung nehme zu den aktuellen Anlässen dieses Gedenkens, die auch die Evangelische Kirche in Deutschland in besonderer Weise berühren, möchte ich an die Verpflichtung der evangelischen Kirche erinnern, die aus ihrem Auftrag aus dem Evangelium und aus ihrer eigenen Schuldgeschichte erwächst. Die Kirche ist unbedingt gebunden an das Eintreten für den Schutz und die Wahrung von Menschenrechten und Menschenwürde von Minderheiten. Am 18. und 19. Oktober 1945, ein halbes Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland rückblickend auf die Verbrechen des Nationalsozialismus mit dem vielmillionenfachen Völkermord an den Juden und anderen Minderheiten, insbesondere den Sinti und Roma, die Mitschuld der evangelischen Kirche mit den Worten bekannt: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Damit hat die evangelische Kirche im nachhinein eingestanden, dass sie die biblische Botschaft von der Gleichheit und gleichen Würde aller Menschen gegenüber dem größten und schrecklichsten Völkermord in der neueren Geschichte nicht angemessen laut, sondern eher verhalten und zu leise bezeugt hat.

Die evangelischen Kirche hätte lernen und sich orientieren können unter anderem an jenem Mann aus ihren Reihen, der 30 Jahre zuvor laut seine Stimme erhoben hatte gegenüber der Untätigkeit der Deutschen Reichsregierung angesichts des Genozids der jungtürkischen Regierung des osmanischen Reiches und ihrer paramilitärischen Verbände an dem Volk der Armenier. Der evangelische Pfarrer Johannes Lepsius hatte seinerzeit in die Tat umgesetzt, wozu uns die Bibel ruft: "Tu deinen Mund auf für die Stummen" (Sprüche 31, 8). Seine unter hohem persönlichen Risiko erstellte Dokumentation des Völkermords an den Armeniern, die seit Ende 1915 kursierte, hatte die politische Gleichgültigkeit für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kindern angeprangert und im Deutschen Reichstag deutliche Wirkung gezeigt. Rückblickend auf dieses Versagen Deutschlands haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Jahre 2005 in einem Beschluss einmütig unter anderem festgestellt, "das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehung zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden."

Eine der Grundüberzeugungen von Johannes Lepsius lautete: "Im Zweifelsfalle ist unser Platz an der Seite der Opfer". Diese Maxime entsprang seiner christlichen Glaubensüberzeugung, wonach die Menschenwürde einen unbedingten Charakter hat. Sie leitet sich weder aus bestimmten Eigenschaften noch von bestimmten Leistungen des Menschen ab. Es ist eine Würde, die dem Menschen in unserem christlichen Glauben von Gott zuerkannt wird. Sie gilt universal, also aus der Sicht eines Christen auch für den, der sich für ihre Begründung und Herleitung auf andere als christliche Quellen beruft. Eine christliche Begründung der Menschenrechte hat ihre Stärke darin, dass sie die Menschenrechte nicht allein als Ergebnis eines innermenschlichen Verständigungsprozesses ansieht, der je nach dem Gewicht der unterschiedlichen Kräfte changiert. Immer wieder erleben wir ja, dass Menschenrechte in einen "deal" gestellt werden: Ein paar politische Gefangene werden dann durch eine Reihe neuer Schulen oder Krankenhäuser aufgewogen. Sicher , Menschenrechte sind natürlich immer auch ein innermenschlicher Verständigungsprozess. Für diesen gesellschaftlichen Prozess hat die Kirche jedoch einen Bezugspunkt, der die menschlichen Begründungsunterschiede für die Menschenrechte relativiert, ja transzendiert. Für Christen ist die Gottesbeziehung das entscheidenden Widerlager, an dem sich auch unsere eigenen Interessen als christliche Bürger in Staat und Gesellschaft brechen. Die Menschenwürde ist eine Gabe Gottes. Sie ist für Christen mit der biblischen Einsicht von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verknüpft. Gott selbst erleidet in seinem Sohn Jesus Christus Folter und gewaltsamen Tod. Dennoch hält er durch die Auferweckung seines Sohnes an seiner Liebe zu den Menschen fest. Darum ist von Gott zugeeignete Menschenwürde sehr wohl verletzlich, aber doch unzerstörbar.

Wenn die Kirche gegen die Verletzung der Menschenwürde aufsteht und für die Wahrung der in ihr verankerten Rechte eintritt, so folgt sie darin jenem Weg, den ihr der Herr der Kirche Jesus Christus selbst vorgegeben hat. Darum ist es unverzichtbarer Auftrag der Christen, immer wieder laut und vernehmlich ihre Stimme zu erheben und konkret zu handeln, wo einzelne oder Gruppen von Menschen aus welchen Gründen auch immer entrechtet, verfolgt und verletzt werden.

"Tu Deinen Mund auf für die Stummen" – auch für die Gesellschaft für bedrohte Völker war und ist es seit vier Jahrzehnten stets die Handlungsmaxime, laut und nicht leise die oftmals zunächst verborgenen Misshandlungen, Verfolgungen bis hin zum Genozid ganzer Bevölkerungsgruppen in das Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken und an die Verantwortung der Völkergemeinschaft zu appellieren. Dabei hat die Gesellschaft für bedrohte Völker sich stets bemüht im besten Sinn ohne Ansehen der Person, des Interesses und der politischen Matrix zu handeln, d.h. sie hat massenhafte Verletzungen von Menschenrechten und Genozide laut und deutlich beim Namen genannt ohne Rücksicht auf politische Opportunitäten einerseits und ohne bestimmte Gruppen von Menschen oder bestimmte Verfolgungsgründe zu favorisieren andererseits. In diesem Sinn handelt die Gesellschaft für bedrohte Völker allein für die in ihrer Würde und ihren Rechten verletzten Menschen . So nutze ich die Gelegenheit gerne, der Gesellschaft für bedrohte Völker für diesen wichtigen Einsatz im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland zu danken.

Dabei ist es in den vier Jahrzehnten punktuell immer wieder auch zu Allianzen mit dem entsprechenden Handeln der Kirche gekommen. Erinnern möchte ich nur an die gemeinsame Sorge um das Schicksal der kurdischen Yeziden aus der Südosttürkei und dem Nordirak. Seitdem sich die Anerkennung von Yeziden als Gruppenverfolgte bis Anfang der 90iger Jahre in der deutschen Rechtssprechung allgemein durchgesetzt hat, haben die Angehörigen dieser religiösen Minderheit in Deutschland eine feste und dauerhafte neue Heimat gefunden. Mittlerweile gibt es verlässliche Kontakte zwischen yezidischen Vereinen und evangelischen Kirchengemeinden wie auch zwischen den Dachorganisationen der Yeziden und der EKD. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die Kirchen für alle schutzbedürftigen Menschen einsetzen, unabhängig von Ihrer religiösen Zugehörigkeit.

Ein weiterer Beleg dafür ist das Engagement von Kirche und Diakonie für die Opfer des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien, für die sich auch die Gesellschaft für bedrohte Völker sehr stark eingesetzt hat. Es ist aber nicht zu übersehen, dass insbesondere christliche Minderheiten weltweit zu den verfolgten Gruppen zählen. Das gilt nicht nur für Christen in islamisch geprägten Ländern, sondern aktuell auch für die Christen im nordindischen Bundesstaat Orissa.

Ein weiterer Brennpunkt ist die Lage der religiösen Minderheiten, darunter auch zahlreiche Christen, im Irak und aus dem Irak in den Nachbarländern Jordanien und Syrien.

Ähnlich wie vor einigen Jahren im Fall der assyrischen Christen aus dem Tur Abdin in der Südosttürkei haben wir als Kirchen in Europa hier sehr gemischte Gefühle. Einerseits sehen wir mit großer Trauer, dass in vielen Ursprungsgebieten der Bibel und des frühen Christentums wie der Südosttürkei und Mesopotamien, dem Zweistromland im heutigen Irak, der christliche Glaube und die christliche Kultur vom Aussterben bedroht sind. Andererseits gebietet es das Schicksal der Flüchtlinge, uns dafür einzusetzen, dass ihnen in Europa und in Deutschland eine sichere Zukunft offen steht. An diesem Punkt ist für alle menschenrechtlich engagierten Organisationen wie auch für die Kirchen noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Zahl von 10.000 irakischen Flüchtlingen, zu deren Aufnahme sich die EU- Innenminister nach monatelangen quälendem Ringen nunmehr entschlossen haben, hat ebenso wie die Zahl von 2.500 irakischen Flüchtlingen, die aus den 10.000 nun in Deutschland in einem "resettlement-Programm" neu angesiedelt werden sollen, kaum mehr als eine symbolische Bedeutung angesichts der mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak, die in den Lagern in Jordanien und Syrien ohne jegliche Perspektive ein menschenunwürdiges Dasein fristen müssen. Vor einem Monat hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erneut an die Verantwortung Europas für die Aufnahme irakischer Flüchtlinge appelliert. Die Europäische Union ist ja nicht nur ein Raum der Freiheit und des Rechts, sondern im Weltmaßstab betrachtet auch ein Raum der wirtschaftlichen Prosperität. Ich denke, dass es der EU gut anstehen würde, die Kontingentgröße von der jetzt beschlossenen kleinstmöglichen fünfstelligen Zahl auf eine mittlere sechsstellige Zahl zu erhöhen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich für eine solche Forderung auch wieder eine neue Allianz der Kirche mit der Gesellschaft für bedrohte Völker finden ließe.

"Tu deinen Mund auf für die Stummen" – Wir haben als Kirche Seite an Seite mit den Menschenrechtsorganisationen auch in Zukunft diesem biblischen Motto treu zu bleiben in der Verantwortung vor Gott und den in ihrer Würde und elementaren Rechten bedrohten und verletzten Menschen.

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.