13.11.2013

Asyl absurd

Ankunft zehntausender tschetschenischer Flüchtlinge in Deutschland

Vor allem Familien mit kleinen Kindern flüchten vor Kadyrows Terrorregime. Foto: CC BY-SA 2.0 EU Humanitarian Aid and Civil Protection (flickr.com)

Aus bedrohte völker_pogrom 276, 2/2013

Angela Merkel nimmt tschetschenische Flüchtlinge auf, sie erhalten Land und Geld! Dieses Gerücht kursiert seit Anfang des Jahres 2013 in der Kaukasusrepublik und lässt ganze Straßenzüge, ganze Dörfer nach Europa aufbrechen. Alles Hab und Gut wird verkauft, Verwandte sammeln Geld, die Brücken zur Heimat werden abgebrochen – eine Rückkehr ist so gut wie unmöglich. Wie in den letzten Jahren der DDR Ende der 1980er Jahre findet eine freiwillige politische Säuberung statt: Es brechen all die auf, die dem blutigen Regime des von Moskau eingesetzten Diktators Ramzan Kadyrov entfliehen wollen.

Ziel ist Deutschland, doch der Fluchtweg führt über die osteuropäischen Pufferstaaten Polen oder Tschechien. Mit der erkennungsdienstlichen Behandlung bei der Einreise, der Fixierung der Fingerabdrücke, haben die Flüchtlinge automatisch dort einen Asylantrag gestellt. Nach dem Dublin II-Abkommen muss das Land das Asylverfahren durchführen, das die Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union zuerst betreten haben. Es ist auch für die sozialen Leistungen zuständig. Doch Polen ist ein vergleichsweise armes Land und kann den Flüchtlingen keine Perspektive bieten. Sie bleiben am liebsten nur so lange wie es unbedingt nötig ist. Die Aussicht, vielleicht doch in Deutschland aufgenommen zu werden, verleitet sie zum erneuten Aufbruch.

Bei der illegalen Einreise nach Deutschland werden Tausende von ihnen verhaftet. Männer und alleinstehende Frauen landen in den Betonzellen der Bundespolizei und in Justizvollzugsanstalten. Frauen und Kinder werden in Erstaufnahmeheime verteilt, vor allem nach Eisenhüttenstadt und Chemnitz. Dort müssen sie solange bleiben, bis ihre Rückführung nach Polen oder Tschechien möglich ist, eine lange Zeit bangen Wartens und verzweifelter Versuche, doch in Deutschland bleiben zu können.

Besonders dramatisch ist die Situation in Chemnitz in Sachsen. Dort herrscht soziales Chaos. Bis zu drei Familien sind in einer winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung untergebracht. Andere Flüchtlinge sind in großen Zelten zusammengepfercht. Es fehlt an Sozialarbeitern, Dolmetschern, medizinischer Betreuung. Heftige, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen erschweren die Situation zusätzlich. Der Ansturm von derzeit mehr als 2.000 tschetschenischen Flüchtlingen im Monat überfordert sowohl deutsche Asylbehörden als auch Flüchtlingshilfsorganisationen und Rechtsanwälte. Nationale Medien behaupten zudem, dass unter den Flüchtlingen 200 gewaltbereite islamistische Terroristen seien. Das istv absurd! Es kommen vor allem junge Familien mit kleinen, oft kranken Kindern, die in Europa überleben wollen, wie zum Beispiel die Familie Ismailova (Name geändert). Sie wurde in Gewahrsam genommen, als sie im Mai 2013 nach Sachsen einreisen wollte. Weil dort alle Gefängnisse bereits überfüllt waren, wurden sie auf Staatskosten nach Berlin kutschiert. Der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmte Familienvater und der erwachsene Sohn landeten im Abschiebegewahrsam in Berlin-Köpenick. Die Mutter wurde mit ihren zwei minderjährigen Kindern nach Zirndorf in Bayern verteilt. Da der gelähmte Vater weder haftfähig noch das Bundesland Berlin für ihn zuständig war, wurde er wieder zurück nach Sachsen gebracht. Wieder auf Staatskosten versteht sich, in dasselbe geschlossene Heim an der polnischen Grenze, das er bereits kannte. Ohne seine Ehefrau ist er auf staatliche Pflege angewiesen. Die Familie war nun hoffnungslos auseinandergerissen und dementsprechend verzweifelt. Alle Bemühungen, wieder zusammengeführt zu werden, scheiterten. Nach drei Monaten wurden der erwachsene Sohn aus Berlin-Köpenick und der kranke Vater aus Sachsen nach Polen abgeschoben, einen Monat später Mutter Malkan mit den Kindern.

Die Familie Ismailova ist aus Tschetschenien geflohen, weil Malkans Sohn aus erster Ehe dreimal von den Milizen Kadyrovs verschleppt und grausam gefoltert worden war. Er wurde verdächtigt, Kontakt zu seinem Vater zu haben, der möglicherweise bei islamistischen Rebellen in den Bergen kämpft. Er ist seit zehn Jahren verschollen. Die Familie weiß, dass sie in Sippenhaft genommen und von dem Regime nicht in Ruhe gelassen wird. In ihrer Verzweiflung schrieb Malkan einen Brief an Angela Merkel, in dem sie ihr Flüchtlingsschicksal und ihre Enttäuschung über Deutschland schildert. Sie hatte so sehr gehofft, dass ihr kranker Ehemann in einem deutschen Krankenhaus untersucht wird und sie hier Aufnahme und Ruhe finden.

Das Beispiel zeigt, dass vor allem eine rechtzeitige Aufklärung über die Asylgesetze in Europa fehlt. Es scheint dringend nötig, dass die Bundesregierung das in Tschetschenien verbreitete Gerücht dementiert: Eine pauschale Aufnahme von Flüchtlingen aus Tschetschenien gibt es selbstverständlich nicht! Und natürlich auch keine Zuteilung von Land und Geld!.

Hintergrund

Von 1994 bis 1996 und 1999 bis 2009 führte die russische Armee brutale Kriege in Tschetschenien. Jeweils 80.000 Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende flohen, Zehntausende wurden verhaftete und in Filtrationslagern gefoltert. Die russische Luftwaffe bombardierte Flüchtlingstrecks, Dörfer, Schulen und Krankenhäuser. Soldaten verschleppten und töteten Menschen. Der russische Präsident Wladimir Putin „tschetschenisierte“ den Konflikt: Er setzte 2003 den Russland ergebenen Tschetschenen Achmad Kadyrow als Präsidenten ein. Kadyrow kam 2004 bei einem Attentat ums Leben. 2006 folgte ihm sein Sohn Ramzan Kadyrow. Heute gilt in Tschetschenien nur Ramzan Kadyrows Gesetz. Seine Spezialeinheiten setzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken, Menschenrechtsaktivisten und Vertreter der politischen Opposition wurden ermordet. Menschen verschwinden, werden willkürlich verhaftet und systematisch gefoltert, Frauenrechte mit Füßen getreten.

Zum Autor

Ekkehard Maß ist Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft mit Sitz in Berlin. Die wichtigsten Arbeitsthemen der Gesellschaft sind Politik und Menschenrechte, Konfliktlösung, der interkulturelle Dialog mit den Völkern des Kaukasus sowie seit mehr als zehn Jahren die Hilfe für Flüchtlinge in ihren Asylverfahren und bei der sozialen Integration.