27.04.2005

Assyro-Chaldäer/Irak - Im Schatten der Weltpolitik: Blutiger Terror gegen Christen

Die Lage der Chisten im Irak – Pater Emmanuel Youkhanaim Gespräch.

bedrohte Völker: Sie sind nach einem eineinhalb monatigen Aufenthalt im Nordirak zurückgekehrt. Wie ist die allgemeine Situation der Christen im Irak?

Pater Emmanuel: Wir müssen die Situation differenziert betrachten. In Kurdistan und den Assyro-Chaldäischen Regionen im Norden und Osten von Mosul ist die Sicherheitslage und daher auch die allgemeine Situation ganz gut. Auch von Kirkuk hatte ich einen guten Eindruck. Nur im so genannten "Sunnitischen Dreieck" treiben die Terroristen, die sich aus islamischen Fundamentalisten und ehemaligen Regimeanhängern zusammensetzen, immer noch ihr Unwesen. Sicherheit ist jedoch die Grundlage für einen einigermaßen normalen Alltag. Solange es keine Sicherheit gibt, kann eine Region oder ein Land nicht wiederaufgebaut werden. Diese Gedanken bewegten alle Iraker, als sie am 30. Januar zur Wahl gingen und dadurch eine neue Entwicklungsphase für den Irak einläuteten.

bedrohte Völker: Wie viele Assyro-Chaldäer leben im Irak, wie viele im Exil?

Pater Emmanuel: Die Assyro-Chaldäer, etwa 700.000 bis 800.000 Menschen im Irak, wurden in den letzten Monaten Opfer einer intensiven Terrorkampagne, die sich gegen sie persönlich, ihre Kirchen, ihre gesamte Lebensweise richtet. Als Minderheit, die sich ein friedliches Leben wünscht, sahen sich viele Christen gezwungen, Sicherheit innerhalb und außerhalb des Landes zu suchen. Etwa 50.000 von ihnen flohen nach Syrien und Jordanien; 12.000 suchten in den großen Städten Kurdistans und in der Niniveh-Ebene Sicherheit. Leider ist diese neue Fluchtbewegung eine traurige Fortsetzung der Flucht unserer Assyro-Chaldäer aus ihren Heimatländern Irak, Türkei, Syrien und Iran, die seit dem Ersten Weltkrieg andauert. Die unterschiedlichen Regimes und Regierungen haben uns und auch anderen Minderheiten gegenüber eine Politik der Diskriminierung verfolgt. Wir müssen sehen, dass Assyro-Chaldäer einer doppelten Ungleichbehandlung ausgesetzt waren. Einerseits wurden sie als Christen, d.h. als Angehörige einer anderen Glaubensgemeinschaft diskriminiert und zusätzlich als zu einer anderen Ethnie gehörende Gruppe. Die fortgesetzte Abwanderung führte dazu, dass wir nun eine große Gruppe Assyro-Chaldäer – mehr als zwei Millionen Menschen – in der Diaspora haben. Von den Wahlen im Irak erhoffen sich alle, die Christen und andere Minderheiten im Land und diejenigen im Exil eine Verbesserung der Lage.

bedrohte Völker: Wie ist die Situation der alteingesessenen christlichen Familien im Nordirak, wie die Lage der christlichen Flüchtlinge?

Pater Emmanuel: Die Situation der alteingesessenen christlichen Familien im Nordirak und der Niniveh-Ebene ist besonders im Vergleich zu anderen irakischen Regionen gut. Die Menschen fühlen sich hier sicher. Das Wissen um diese Stabilität hat 12.000 christliche Flüchtlinge angezogen, sie kamen bei Verwandten, Freunden, in den Kirchen aber auch in einfachen Zeltlagern unter. Doch das Leben der Flüchtlinge ist sehr schwierig. Sie brauchen moralische und materielle Hilfe. Zahlreiche Flüchtlinge haben ihre Wurzeln in der Region, in die sie nun geflohen ist, sie haben den Wunsch, ein neues Leben aufzubauen. Es bräuchte ein Hilfprogramm, um ihre Dörfer und damit ihren Lebensmittelpunkt wiederaufzubauen. Die Kurdische Regionalregierung und besonders Saris Aghajan, der stellvertretende Premierminister sowie Finanzminister der Kurdischen Demokratische Partei KDP in Erbil tun ihr Mögliches, um den Flüchtlingen materiell zu helfen. Dennoch wären Wiederaufbauprogramme für Häuser, Schulen und Infrastruktur sehr wichtig.

bedrohte Völker: Wieviele Christen haben seit dem ersten Golfkrieg den Irak verlassen, wie viele seit dem jüngsten Einmarsch der US-Truppen?

Pater Emmanuel: Es ist sehr schwierig, hier konkrete Zahlen zu nennen, weil es keine Statistik gibt. Wir gehen jedoch davon aus, dass seit 1991 250.000 Christen den Irak verlassen haben. Dies schließt die 50.000 Flüchtlinge mit ein, die nun in Syrien oder Jordanien Zuflucht gesucht haben.

bedrohte Völker: Wie lässt sich die Verfolgung der Christen im mittleren und südlichen Irak beschreiben?

Pater Emmanuel: Die derzeitige Situation ist besser als jene unter dem Regime von Saddam – das möchte ich voranstellen. Sicher ist die Lage derzeit nicht perfekt. Unsere assyro-chaldäische Gemeinschaft leidet unter verschiedenen Formen der Verfolgung. Formen und Ausmaß der Verfolgung sind jedoch nicht vergleichbar mit der Lage unter Saddam. Unter Saddam waren wir Opfer einer staatlich sanktionierten Diskriminierungs- und Arabisierungspolitik, welche die Zerstörung unserer Identität, unserer Infrastruktur und Demographie zum Ziel hatte. Im Moment haben wir es mit einer terroristischen Kampagne zu tun, die von Islamisten oder den Anhängern des ehemaligen Regimes ausgeführt wird. Es gibt viele Gründe dafür, dass diese Terroristen für ihre verbrecherischen Aktionen im Irak gerade eine geeignete Umwelt vorfinden, wie zum Beispiel das Machtvakuum, die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung.

Im Moment haben wir es im Irak, mit der Ausnahme von Kurdistan und der Niniveh-Ebene, mit folgenden Problemen zu tun: Geschäfte von Christen, insbesondere Läden, in denen Alkohol verkauft wird, Friseurgeschäfte etc. werden angegriffen. Christen, die in irgendeiner Art und Weise mit den Amerikanern, mit ausländischen Organisationen oder Firmen zusammenarbeiten, werden ermordet. Christen werden Opfer von Entführungen. Für die Freilassung müssen enorme Geldsummen bezahlt werden. Es werden nicht nur Christen entführt, Christen werden aber überdurchschnittlich oft entführt. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass sie an den Tätern keine Rache üben. Besonders traurig sind auch die zahlreichen Angriffe auf Kirchen. Dabei werden nicht nur die Gebäude zerstört, die Botschaft hinter den Angriffen ist wichtig und beängstigend. Christen, insbesondere Frauen, sollen dazu gezwungen werden, islamischen Vorschriften zu befolgen. Imams in den Moscheen nennen Christen "Kuffar" – ein Schimpfwort für Ungläubige – und fordern Muslime auf, sich nicht mit Christen einzulassen. Ein Imam in Mosul hat gesagt, die Muslime sollten nichts mehr von Christen kaufen. Diese müssten ohnehin bald das Land verlassen und dann könnte ihr Eigentum ohne Gegenleitung genommen werden.

bedrohte Völker: Eine assyrische Exilorganisation unterscheidet zwischen patriotischen Assyrern, Chaldäern, die eine eigene Nation sein wollen und Gruppen, die sich kurdische oder arabische Christen nennen. Welche sind die Gemeinsamkeiten der christlichen Gruppen?

Pater Emmanuel: Chaldäer und Assyrer haben all das gemeinsam, was sie zu einem Volk macht. Sie sprechen eine gemeinsame Sprache, haben dieselbe kulturelle Identität, das selbe kulturelle Erbe und die gleichen Traditionen, die selbe Geschichte, die selben Dörfer und demographischen Regionen. Dennoch ist dieses eine Volk zersplittert. Einige der Gründe dafür liegen in der Kirchengeschichte, aber auch in der Tatsache, dass sie lange verfolgt und vertrieben wurden. Trotzdem – ich will ich nochmals betonen – sind wir ein Volk. Ich betrachte mich genauso als Chaldäer wie als Assyrer. Die unterschiedlichen Namen Assyrer/Chaldäer/Syrer sollten unsere Einheit nicht gefährden.

bedrohte Völker: Wie wird den christlichen Flüchtlingen im Nordirak geholfen? Wie gehen die kurdischen Behörden mit den Problemen um?

Pater Emmanuel: Die Flüchtlinge werden wie gesagt von Verwandten und Freunden aufgenommen oder müssen in Zelten leben. Andere versuchen, Räume zu mieten; eine sechsköpfige Familie, die ich besucht habe, lebt beispielsweise in einem kleinen Raum. Auch die Gemeindesäle der Kirchen nehmen Flüchtlinge auf. Die kurdische Verwaltung tut was sie kann, um den Flüchtlingen zu helfen. So haben sie zum Beispiel Arabisch-Klassen eingerichtet, damit die Kinder der Flüchtlinge dem Schulstoff folgen können, der ansonsten nur auf Kurdisch oder Assyrisch vermittelt wird. Sie bekommen auch eine finanzielle Unterstützung, die zwar klein ist und nicht ausreicht, aber die Lage doch erleichtert. Personen, die in der kurdischen Verwaltung arbeiten wollen, aber auch in Schulen oder Krankenhäusern, bekommen die gleichen Chancen wie alle. In vielen Fällen werden sie sogar bevorzugt behandelt.

bedrohte Völker: Gibt es noch geschlossene Siedlungsgebiete der Christen?

Pater Emmanuel: In Kurdistan leben in den Dörfern entweder 100% Kurden, 100% Assyro-Chaldäer oder 100% Yezidi. Von dieser Regel gibt es wenige Ausnahmen, so zum Beispiel das Dorf Derishky. Nur in den Städten Kurdistans leben Menschen aus den unterschiedlichen Gruppen zusammen. Früher war auch das nicht so. In der Niniveh-Ebene haben wir Städte, in denen Tausende Christen leben, z.B. die Städte Alqush, Telsqupa und andere. Dort gibt es eine ganzheitlich christliche Bevölkerung. Andere wichtige Orte in der Niniveh-Ebene waren Ziel der Arabisierungspolitik unter Saddam. Dazu zählen Baghdeda (Hamdaniya), Bartilla und Telkaif. Wir hoffen, dass die Folgen der Arabisierung aufgehoben werden.

bedrohte Völker: Wie ist die Nachbarschaft zu den Yeziden?

Pater Emmanuel: Wir sind beides nicht-muslimische Minderheiten, deshalb sind wir durch Solidarität und Zuneigung verbunden. Diese gemeinsame Geschichte geht weit zurück. Sowohl Yezidi als auch Assyro-Chaldäer sind die ältesten, autochtonen Bewohner des Irak. Unsere Wurzeln gehen zurück in die Zeit Mesopotamiens, zu den Assyrern und Babyloniern.

bedrohte Völker: Im Irak lebt auch die alte, vorchristliche Gemeinschaft der Mandäer, die sich auf Johannes den Täufer zurückführen. Auch sie werden im Irak verfolgt. Gibt es Verbindungen zwischen Christen und Mandäern?

Pater Emmanuel: Ja, neben der aramäischen Sprache, die die Liturgiesprache der Mandäer ist – im Alltag sprechen sie Arabisch – fühlen sich die Mandäer den Christen näher als anderen Gruppen im Irak. Dies liegt auch an den gemeinsamen religiösen Wurzeln. Trotzdem sind die Verbindungen nicht so eng, da die Mandäer besonders im Süden des Iraks leben und die Christen im Norden. Enge Beziehungen zwischen Mandäern und Christen existieren besonders in den großen Städten wie Bagdad oder Basrah.

bedrohte Völker: Helfen die Assyro-Chaldäer im Exil ihren Landsleuten im Irak?

Pater Emmanuel: Ja, selbstverständlich. Es gibt Unterstützung von Mensch zu Mensch, durch Familienverbindungen, aber auch durch Organisationen. Die Unterstützung konzentriert sich besonders auf Hilfslieferungen, aber auch auf Öffentlichkeitsarbeit für die Christen im Irak.

bedrohte Völker: Was fordern Sie von den Regierungen, was erwarten Sie von der europäischen Öffentlichkeit?

Pater Emmanuel: Ich denke, die Wahlergebnisse im Irak spiegeln das tatsächliche Bild des Irak und der Menschen im Irak wider. Der Wille, einen neuen Irak aufzubauen, basierend auf demokratischen und den Menschenrechten verpflichteten Werten, wird deutlich. Dies ist nach Jahrzehnten der Diktatur und des Totalitarismus kein leichtes Unterfangen. Den Europäischen Demokratien auf der offiziellen und gesellschaftlichen Ebene kommt beim Prozess der Stabilisierung des Irak eine wichtige Rolle zu. Ein friedlicher Irak hat eine große Ausstrahlung auf eine insgesamt positive Entwicklung im Mittleren Osten. Es ist unfair, dass Europäische Regierungen die Menschen im Irak "bestrafen" und zu Opfern machen, weil sie nicht mit der Politik der USA und Großbritanniens einverstanden sind.

Wir brauchen die politische und materielle Unterstützung Europas. Als irakische Christen erwarten wir von den europäischen Staaten Unterstützung, damit wir im Irak bleiben können. Dies kann durch moralische, politische und materielle Hilfe für die Christen bewerkstelligt werden. Auf der politischen Ebene kann Know-How gebraucht werden. Die christlichen Gemeinden brauchen Wiederaufbauhilfe für die Dörfer, Häuser, Schulen, Fabriken. Organisationen aus dem Kulturbereich sollten die kulturelle Identität der Christen z.B. durch die Ermöglichung von Syrisch-Unterricht stärken. Ähnliche Erwartungen haben wir an die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Medien. Sie müssen die Problematik der irakischen Christen in Deutschland bekannt machen.

bedrohte Völker: Sie sind ein Repräsentant der Organisation CAPNI. Wie hilft diese Organisation?

Pater Emmanuel: CAPNI versucht durch ihre Vernetzung mit deutschen und europäischen Organisationen, den Christen im Irak auf verschiedenen Ebenen zu helfen. Für Flüchtlinge und Rückkehrer müssen Häuser aufgebaut, zerstörte Kirchen und Schulen renoviert werden. Wir unterhalten auch Projekte, um Trinkwasser und die sanitäre bzw. medizinische Versorgung sicherzustellen. Im Moment ist jedoch die Priorität, den Vertrieben und Flüchtlingen erste, lebenswichtige Hilfe zu leisten.