26.04.2005

Assyrer - Warten auf Rückkehr

Erste wichtige Schritte: Auswirkungen der EU-Beitrittsbemühungen auf die Assyrer.

In einem atemberaubenden Tempo bereitet sich die Türkei auf die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union vor; dies ist ein Anpassungsprozess, den vor Jahren kaum einer für möglich gehalten hatte – am wenigsten die Minderheiten. Ein Reformpaket nach dem anderen wurde in jüngster Vergangenheit vom Parlament verabschiedet, damit die von der europäischen Kommission 1993 festgelegten Kriterien erfüllt werden. Diese Kriterien fordern neben den wirtschaftlichen Anpassungen u.a. auch den Respekt und den Schutz der Menschenrechte und vor allem die Rechtstaatlichkeit. Die Staats- und Regierungschefs der EU werden Anfang Dezember 2004 zu entscheiden haben, ob sie der Türkei Beitrittsverhandlungen zusagen. Bereits vor dem letzten Reformpaket sagte der türkische Regierungschef Erdogan, dass der Großteil der Kriterien des EU- Gipfels von Kopenhagen erfüllt sei und damit "die kritische Schwelle" überwunden habe. In diesem Jahr werde Ankara bereits beschlossene Reformen voll umsetzen.

Wichtige Beschlüsse sind die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, und damit die Eindämmung des politischen Einflusses der Militärs, die Abschaffung der Todesstrafe sowie der Beginn von offiziellen Radio- und Fernsehsendungen in nicht-türkischer bzw. kurdischer Sprache. Damit sind Tabus gebrochen. Manche Beobachter sehen darin schon die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses. EU Erweiterungskommissar Günter Verheugen sah die Freilassung der kurdischen Politikerin Leyla Zana im Juni 2004 als ein Zeichen dafür, dass die Umsetzung der Reformen an Boden gewinnt. Beim EU Gipfel im Juni 2004 begrüßte die EU die vollzogenen Reformen und bot der Türkei Unterstützung bei der Umsetzung der Reformen an. Die türkische Regierung hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die Umsetzung der Reformen vorantreiben soll. Unter anderem behandelte die Arbeitsgruppe bisher die Einführung von ersten kurdischen Sprachkursen in der Türkei sowie die Rechte der christlichen Minderheiten.

Auswirkungen auf die Assyrer

Seit dem Ende des innertürkischen Krieges 1999 mit der PKK hat sich die Lage der syrisch-aramäisch sprechenden Christen in der Türkei und insbesondere in ihrer Heimat Tur Abdin im Südosten des Landes merklich gebessert. Dazu hat die Aufhebung des Ausnahmenzustandes in den Ostprovinzen und der langsame Einzug von Rechtstaatlichkeit im Zuge der Reformen beigetragen. Bis Ende der 90er Jahre befand sich die christliche Minderheit der Assyrer unter massivem Druck – sowohl der PKK als auch des türkischen Militärs mit ihren verbündeten Dorfschützern. In den 15 Jahren der Auseinandersetzung zwischen türkischem Militär und PKK schrumpfte die Zahl der Christen durch Flucht und Emigration von mehreren Zehntausend auf wenige Tausend Seelen. Die Reformentwicklung lässt deshalb hoffen, dass eine Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimat Tur Abdin sogar realistisch erscheint. Viele der nach Europa emigrierten Assyrer besuchen nicht nur wieder ihre einstige Heimat, sondern versuchen, ihre zumeist verfallenen Häuser und Kirchen wieder aufzubauen. Man bemüht sich, die Besitzstände von Haus und Grund nach Besetzung und Änderung der rechtlichen Grundlagen wieder zu klären. Es entstanden Dorfvereine, die durch Spenden Projekte in den verlassenen Dörfern der Assyrer ermöglichen.

Darüber hinaus gibt es erste Rückkehrprojekte, die im Wesentlichen Zusammenschlüsse von in Europa lebenden Familien sind, die entschlossen darauf hinarbeiten, wieder in ihre Dörfern zurückzukehren. Im Projekt Kafro sind dies z.B. über 70 Personen (insgesamt 17 Familien) aus der Schweiz, Deutschland und Schweden, die einen Dorfentwicklungsverein gegründet haben, um ihr Rückkehrprojekt zu verwirklichen. Mittlerweile gibt es über ein halbes Dutzend Dörfer (darunter fünf in den Izlo-Bergen nahe der Grenze zu Syrien), die sich dem Beispiel von Kafro angeschlossen haben und gezielt auf die Rückkehr hinarbeiten. Die Dorfvereine sind zusammengeschlossen, um voneinander zu lernen. In den letzten zwei Jahren waren die Jahrestagungen der "Solidaritätsgruppe Tur Abdin" von diesem Thema dominiert.

Die Rückkehrinitiativen werden in der sich auf Reformkurs befindenden Türkei und bei den staatlichen Behörden sowohl in Ankara als auch in der Region begrüßt und die Bemühungen von offizieller türkischer Seite offen unterstützt. Das heißt aber nicht, dass finanzielle Hilfe gewährt wird. Doch man erleichtert die Klärung und Entscheidung von rechtlichen Fragen. Die einzige formelle Stütze ist dabei ein Dekret (2001/33) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ecevit aus dem Jahre 2001, in dem die in die europäischen Staaten ausgewanderten Assyrer aufgerufen werden, in ihre Heimat zurückzukehren, verknüpft mit der Versicherung, dass alles rechtliche von staatlicher Seite getan werde, damit die Rückkehrenden von den demokratischen Rechten profitieren können und dass sich die Rückkehrer unter dem Schutz des Staates befinden werden.

Trotz dieses Dekrets und der offiziellen Unterstützung der Wiederaufbau- und Rückkehrinitiativen durch die lokalen Behörden gibt es Ungereimtheiten in der höchsten Politik, die zeigen, dass die Schere zwischen Dekreten bzw. Gesetzen und deren Umsetzung noch weit auseinanderklafft. Einige ausgewählte Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Fall 1: Die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments

Die Assyrisch-Demokratische Organisation (ADO) machte im März 2003 auf einen Bericht der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments aufmerksam, in dem behauptet wurde, dass die Assyrer (türkisch Süryani) "wie die Armenier Forderungen nach Land erheben" und damit für die Türkei eine "potenzielle Gefahr" darstellen könnten. Die Untersuchung der Kommission wurde von Resul Tosun, einem Abgeordneten der regierenden islamisch-konservativen AKP geführt, der zwar feststellte, dass in Mardin und seiner Umgebung nur noch etwa 2.000 Süryanis leben, doch etwa 60.000 Süryanis, die mittlerweile in den europäischen Staaten leben, seien nach wie vor in der Türkei als Staatsbürger registriert. In einem Bericht der türkischen Zeitung Milliyet vom 21. Februar 2003 wurde der Abgeordnete damit zitiert, wonach berechtigte Wünsche der Süryanis nach Gewährung des Rechtes für die Durchführung des religiösen Unterrichtes vorgebracht wurden. Der Bericht schloss allerdings mit der Warnung, das diese Gemeinschaft in Zukunft für die Türkei eine Gefahr werden könne. Als Gründe werden Landkauf und Bemühungen der Assyrer zur Anerkennung des Völkermordes von 1914-1918 genannt. Als positiv wertet die ADO den Umstand, dass die Aussagen der Kommission bereits in der Türkei auf Kritik stießen. Sowohl der türkische Menschenrechtsverein in Istanbul als auch die Zeitung Özgür Politika kritisierten den Bericht der Kommission.

Dieser Fall zeigt den krassen Widerspruch zu den seit 2001 von höchsten Stellen wiederholten Behauptungen, wonach von staatlicher Seite alles unternommen werde, damit die rückkehrwilligen Assyrer in ihre Heimatdörfer im Tur Abdin zurückkehren können. Die ADO fragt, wie es denn mit dem Rechtsverständnis der AKP zu vereinbaren sei, dass noch türkische Staatsbürger und Angehörige einer Minderheit, die vor den Türken in der Region angesiedelt war, kein Land erwerben dürfen.

Fall 2: Besetzung des Dorfes Sare in der Provinz Sirnak

1994 verließen die letzten christlichen Bewohner das Dorf Sare (türkisch Sariköy) in der Provinz Sirnak (Südosttürkei). Früher lebten in Sare über 30 syrisch-orthodoxe Familien. Seither halten die so genannten Dorfschützer – eine paramilitärische Gruppe von Kurden im Dienste des Militärs im Kampf gegen die PKK – in Einvernehmen mit dem Militär Sare besetzt. Das Dorf liegt strategisch an einer wichtigen Durchgangsstraße, weshalb es vom Militär als "kleiner Wachposten" gegen die PKK benutzt wurde. Nach und nach zogen die Familien der Dorfschützer ein; inzwischen bewohnen etwa 30 Familien die verlassenen Häuser der Christen.

Mit der Befriedung des Südostens stieg auch das Interesse der frühren Bewohner von Sare, zurückzukehren; doch die Dorfschützer verweigern ihnen der Zugang und widersetzen sich vehement einer Räumung des Dorfes. Verweise auf das erwähnte Dekret von Ecevit verhallen wirkungslos. Im Mai 2004 hat der Gouverneur (Vali) von Sirnak, Osman Günes, eine Verordnung erlassen, wonach die Dorfschützer Sare verlassen müssen. Trotz Verstreichens von zwei Ultimaten (letzteres am 14. Juli) weigert sich das Militär nach wie vor, den Erlass des Gouverneurs umzusetzen. Die Dorfschützer werden offensichtlich vom Militär zum Verharren ermutigt und scheuen sich nicht, die Bewohner des christlichen Nachbardorfes Bsorino (türkisch Haberli) einzuschüchtern. Osman Günes wurde sogar in Ankara vorstellig, um die Rückgabe von Sare an ihre rechtsmäßigen Bewohner voranzutreiben.

Der Fall hat inzwischen hohe Aufmerksamkeit erlangt. Der höchste EU-Repräsentant in der Türkei, Hans-Jörg Kretschmar, sowie die Deutsche Botschaft in Ankara sind bereits auf das Problem aufmerksam gemacht worden. GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch hat in einem Schreiben an die türkischen Außen- und Innenminister vom 24. Juni 2004 gefordert, alles mögliche zu tun, um die Räumung des Dorfes Sare zu beschleunigen und den christlichen Bewohnern die Rückkehr zu ermöglichen. Die türkische Tageszeitung Zaman berichtete am 12. Juli 2004 über den Fall und zitiert den Brief des GfbV Generalsekretärs an die türkischen Minister.

Fall 3: Aufarbeitung des Genozids 1915

Der Umgang der Türkei mit der Aufarbeitung des von der Weltöffentlichkeit größtenteils vergessenen Genozids an der christlichen Bevölkerung der Assyrer, Armenier und Pontos-Griechen 1915-1917 wurde vor wenigen Jahren durch den Fall des syrisch-orthodoxen Pfarrers Yusuf Akbulut vortrefflich vor Augen geführt. Er hatte in einem Interview mit der Zeitung Hürriyet im Oktober 2000 den Völkermord an den Armeniern und Assyrern während des ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich als historische Tatsache bestätigt, und wurde deshalb wegen Volksverhetzung und Separatismus gemäß dem berüchtigten "Artikel 312" angeklagt. Nach einem Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir wurde er schließlich am 5. April 2001 von allen Anklagepunkten freigesprochen. Janet Abraham, heute im Vorstand der GfbV, nahm damals für die GfbV als Prozessbeobachterin in Diyarbakir teil.

Der als historische Tatsache anerkannte Völkermord wird von der Türkei noch immer geleugnet. Nicht nur die christlich-armenische Gemeinschaft, sondern auch die christlichen Assyrer wurden Opfer der Verfolgungen und Vertreibungen im I. Weltkrieg. Ein Beispiel, wie die Türkei selbst auf dem Weg nach Europa mit der Aufarbeitung der Geschichte umgeht, ist die Aktion des Erziehungsministers vom letzten Jahr. Hüseyin Celik ließ die Leugnung des Genozids auf die Lehrpläne setzen. In einer von ihm selbst unterzeichneten Direktive vom 14. April 2003 wurden die Schulen aufgefordert, im Rahmen eines Aufsatzwettbewerbes zu belegen, dass es keinen Völkermord gegeben habe. Der Zynismus liegt darin, dass selbst armenische Schulen das Schreiben erhielten. Diese Aktion steht im Widerspruch zur Aussage des deutschen Auswärtigen Amtes von 2001, wonach die Türkei "erste Ansätze zur Aufarbeitung der türkisch-armenischen Vergangenheit" und Dialogbereitschaft in der Frage der Völkermordes zeige. Das Europaparlament fordert ausdrücklich von der Türkei die Aufarbeitung und Anerkennung des Völkermordes.

Abschließende Bewertungen

Die Assyrer als ethnische Minderheit begrüßen und unterstützen den Reformkurs der Türkei grundsätzlich. Viele sind der Überzeugung, das sie ihre vollen Rechte als bedrohte Minderheit nur dann erlangen, wenn die Türkei in die europäische Union aufgenommen wird. Denn nur im europäischen Verbund können ihre Rechte garantiert und ihre bedrohte Existenz gerettet werden. Gegenwärtig gibt es zwischen der Gesetzeslage und der Realität im Land noch zu überbrückende Diskrepanzen, ganz besonders was die Minderheit der Assyrer angeht. Der Schwerpunkt der Minderheitsdiskussion liegt auf den Kurden. Zudem hat das Militär noch weitestgehend das Sagen, es gibt keine Institution, die dies verhindern kann. Die AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan kann offensichtlich gegen das Militär nicht so offen Front machen, wie sie das bei reformfeindlichen Behörden in der Provinz tut. Doch auch dort gibt es Beschwerden: Landbesitzer klagen über schleppende Katastererneuerungen und Enteignungen mit der Begründung, das Land würde nicht wirtschaftlich genutzt. Solche Vorfälle wurden aus den Dörfern Mzizah (türkisch Dog¢ançay), Zaz (Izbrak) und Girnis gemeldet.

Generell fordern die Assyrer seit langem die Anerkennung als Minderheit entsprechend des Vertrages von Lausanne von 1923, der aus Sicht der Türkei Gültigkeit hat. Nun sind die Assyrer bisher nicht wie Armenier, Griechen und Juden als ethnische Minderheit anerkannt worden und durften daher z.B. keine eigenen Schulen unterhalten; die volle Anerkennung nach diesem Vertrag würde den Assyrern ethnische, soziale und religiöse Rechte zugestehen. Diese würden auch die Freiheit zu Renovierung und Bau von Kirchen einschließen.

Die Assyrer fordern:

a) Rechtliche Zusagen für die Rückkehr in die verlassenen Dörfer sowie die Klärung der Grundbesitzfragen.

b) Die Aufnahme von Sendungen in syrisch-aramäischer Sprache im türkischen Fernsehen.

c) Verfassungsmäßige Absicherung ihrer Rechte.

d) Die Anerkennung des Genozids an der christlichen Bevölkerung.

Aufgrund dessen, dass die bisher verabschiedeten und die noch geforderten Änderungen dermaßen grundlegend sind, fordert die EU sogar von der Türkei eine neue Verfassung, die sich ausdrücklich auf europäische demokratische Grundsätze stützt, wobei insbesondere die Rechte des Einzelnen und der Minderheiten in einem Gleichgewicht zu den kollektiven Rechten stehen sollen; dies auch in Übereinstimmung mit den üblichen europäischen Normen, wie sie beispielsweise im Europäischen übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das die Türkei unterzeichnen und anwenden sollte, verankert sind.

Die Assyrer wünschen, dass man der Türkei eine Beitrittsperspektive gibt, damit die bereits heute erkennbaren Verbesserungen in der Menschenrechtsfrage nicht hinausgezögert werden. Eine Ablehnung der türkischen Kandidatur würde den Demokratisierungsprozess bremsen.