07.09.2023

Appell an die Bundesregierung

Antwort auf das „Aiwanger-Flugblatt“: Aufruf zum Widerstand gegen Faschismus, für lebendige und kritische Erinnerungskultur, Menschen- und Minderheitenrechte

Aiwanger – der Name steht mittlerweile nicht nur für das abgrundtief zynische und menschenfeindliche Flugblatt eines antisemitischen Jugendlichen, nein, der Name steht auch für eine Stimmung in Deutschland, die Angst macht, und für die wir uns mit schämen müssen.

Dagegen beziehen wir gemeinsam mit dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma Stellung.

Warum das für uns wichtig ist? Mit unserer Menschenrechtsarbeit stehen wir an der Seite von Minderheiten, indigenen Völkern weltweit und kämpfen gegen Völkermord und Vertreibung. Dieses Flugblatt und die aktuelle Diskussion in Deutschland gefährden Menschen bei uns. Wir sehen überall, wohin das führen kann! 

 

Appell an die Bundesregierung:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Ministerinnen und Minister,

Das „Aiwanger-Flugblatt“, die Debatte darüber sowie das Umfragehoch der AfD zeigen: Politisches Handeln, Widerstand gegen Faschismus und Antisemitismus sind dringend notwendig – für den Schutz von Menschen, die in Deutschland und außerhalb unserer Grenzen unter Rassismus, Erniedrigung und Ausgrenzung leiden, und für den Bestand unserer lebendigen, pluralistischen und freiheitlichen Demokratie. Unsere Geschichte, unsere heute von Gewalt und Krieg gezeichnete Welt erinnern uns schmerzlich daran, welch unmittelbar tödlichen Folgen Lügen, Hass, Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung haben.

Vernichtungsfantasien, Antisemitismus und Rassismus, wie sie exemplarisch aus dem „Aiwanger-Flugblatt“ sprechen, vergiften unsere Gesellschaft und gefährden Menschenleben. Dem treten wir mit unserem gemeinsamen Aufruf entschieden entgegen. Denn das Wissen um und die Erinnerung an die Verbrechen gegen Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Andersdenkende und Angehörige von Minderheiten durch die große Mehrheit der Deutschen während des Nationalsozialismus und die daraus erwachsende Verantwortung für jede/n einzelne/n sind Voraussetzung für eine solidarische und freie Gesellschaft heute. Antisemitismus, Antiziganismus und alle Formen von Rassismus und Diskriminierung müssen verurteilt und Minderheiten als essentieller Teil unserer Gesellschaft gewürdigt werden. Menschenverachtung, wie sie aus dem „Aiwanger-Flugblatt“, aber auch aus Äußerungen von AfD-Vertretern spricht, darf nicht unwidersprochen bleiben und nicht bagatellisiert werden. Gemeinsam stellen wir uns gegen die Verharmlosung der Schoa, des Holocausts an Sinti und Roma, gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Wir stehen an der Seite von Jüdinnen und Juden, von Sintizze, Sinti, Romnija und Roma, von Minderheiten und Opfern von Gewalt. Lippenbekenntnisse zu demokratischen Werten reichen nicht aus. Es geht uns alle an! 

Erinnerungskultur und die fortwährende kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sind Bestandteile des historisch-politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Sie dürfen nicht zum Selbstzweck reduziert und in Ritualen ausgehöhlt werden, sondern müssen stetig weiterentwickelt werden und sich auf unsere Gegenwart beziehen. Wir fordern daher: 

•    Politik und Zivilgesellschaft müssen gemeinsam mit Opfern und Nachfahren für eine in allen Teilen unserer Gesellschaft verankerte und respektierte Erinnerungskultur sorgen. 
•    Staatliche Mittel für eine nachhaltige Förderung der politischen Bildung im Sinne der Demokratieförderung und des Respekts für Menschen- und Minderheitenrechte müssen sichergestellt und ausgebaut werden. 
•    Die Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus müssen von der Bundesregierung vollumfänglich umgesetzt werden. 
•    Unsere Verpflichtungen für die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 festgeschrieben sind, müssen wir auf die junge Generation übertragen. Die Unterzeichner*innen rufen dazu auf, der besorgniserregenden Entwicklung in unserer Gesellschaft durch aktives Handeln entgegenzutreten und unseren demokratischen Werten wieder Geltung zu verschaffen. 

Mit freundlichen Grüßen,

Romani Rose
Vorsitzender des Dokumentations- und Kulturzentrums und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

Burkhard Gauly
Bundesvorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. 

Roman Kühn 
Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker e.V.  

Göttingen, 7.9.2023