06.09.2010

Appell an den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen die Roma-"Deportationen" in Frankreich

Frankreich:

Roma-Kinder (Foto: Tilman Zülch/GfbV)

Sehr geehrter Herr Präsident,

mit der planmäßigen Zwangsräumung von über 50 Behelfssiedlungen der Roma aus Rumänien und Bulgarien und deren kollektiver "Deportation" in ihre Heimat wenden Sie sich gegen eine extrem unterprivilegierte europäische Volksgruppe.

Große Teile der "farbigen" Minderheit der Roma in Ost- und Südosteuropa werden bis heute stigmatisiert, unterdrückt, verfolgt und ausgebeutet. Einige wenige tausend von ihnen waren nach Frankreich emigriert, wie auch hunderttausende andere Ost- und Südeuropäer. Indem Sie, verehrter Präsident, jetzt diese Aggression ausgerechnet gegen die auch im Dritten Reich schrecklich verfolgte Menschengruppe lenken, appellieren Sie an die niedrigsten Instinkte von Teilen Ihrer Wählerschaft.

Die damalige Präsidentin des europäischen Parlaments, Simone Veil, kam am 27. Oktober 1979 aufgrund der Einladung unserer Menschenrechtsorganisation nach Bergen-Belsen, um anlässlich der Gedenkkundgebung zu Ehren der 500.000 Roma-Opfer des Holocaust in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers zu sprechen. An diesem Ort hatte die europäische jüdische Präsidentin ihre Mutter verloren. "Juden und Roma…", so waren damals die Worte von Simone Veil, "…haben dort getrennt gelitten und sind dort getrennt gestorben". Und sie fügte hinzu: "Wenigstens jetzt sollten wir gemeinsam gegen Diskriminierung und neue Verfolgungen kämpfen".

Ihr Vorgänger im Amt, Präsident Jacque Chirac, hatte 1995 Frankreichs Mitverantwortung für die kollektive Deportation und Vernichtung zehntausender in Frankreich lebender Juden eingestanden und von "gemeinsamer und unauslöschlicher Schuld" gesprochen. "Der kriminelle Wahn der Besatzer wurde von Franzosen unterstützt, vom französischen Staat", so die Worte dieses großen Mannes. Eine Reihe von Journalisten und Autoren Ihres Landes hatten bereits in den 60er und 70er Jahren darauf hingewiesen, dass auch die Zigeuner Opfer des Holocausts waren.

Anlässlich der Konferenz internationaler Regierungsvertreter, unter anderem Deutschlands, Großbritanniens, der USA, Kanadas und der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zum Thema Asyl und Immigration, appellieren wir an Sie, nicht länger parteipolitische Interessen auf dem Rücken dieser in vielen Teilen Europas diskriminierten Volksgruppe auszutragen.

Wir bitten Sie darum, verehrter Herr Präsident, alle Chancen zu nutzen, um zukünftig gemeinsam mit den 26 anderen EU-Ländern überzeugende und den Problemen angemessene Programme für diese größte europäische Minderheit durchzusetzen. Es ist ein Armutszeugnis der EU-Menschenrechtspolitik, wenn in den gesellschaftlichen Kernbereichen Bildung, Arbeit, Wohnung und Gesundheit die Ziele der "Decade of Roma Inclusion" kaum konsequent umgesetzt wurden.

Dazu gehören etwa: die Auflösung der "Rassentrennung" in Schulen, die Bekämpfung der Diskriminierung im Arbeitsleben, die Initiierung von Infrastrukturprojekten in Roma-Siedlungen und Angebote menschenwürdiger Unterkünfte und angemessener medizinischer Versorgung.

Es hat uns bewegt, dass Außenminister Bernard Kouchner, einst ein großer Menschenrechtler, überlegt haben soll, ob er nicht angesichts dieser radikalen Ausweisungspolitik seines Präsidenten zurücktreten sollte. Mit großem Interesse und großer Sympathie haben wir die vielen Stellung

nahmen von Gewerkschaften, Oppositionsparteien, zahlreichen Intellektuellen und Verbänden Frankreichs gegen diese Abschiebungen verfolgt. Auch die entschiedene Aussage des Papstes sollte zur Revision dieser "Roma-Politik" führen. Auch Institutionen der EU, der UN und des Europarates haben diese Ihre kollektiven Abschiebungen deutlich kritisiert.

In diesem Sinne bitten wir Sie dringend, dieses Unrecht zu beenden und die "Deportationen" einzustellen. Auch Minderheiten können sich emanzipieren und Stück für Stück mit Unterstützung der Mehrheitsgesellschaften Gleichberechtigung erlangen, wie die farbige Bevölkerung der Vereinigten Staaten, deren Situation vor Martin Luther King durchaus mit der der gegenwärtigen europäischen Roma zu vergleichen ist.

Mit freundlichen Grüßen,

 

Tilman Zülch

Präsident der GfbV-International

 

Bitte unterstützen Sie unseren Appell mit Ihrer Unterschrift!

 

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