11.07.2007

ANHANG zur Pressemitteilung 10 Jahre Gesellschaft für bedrohte Völker Sektion Bosnien und Herzegowina - 15 Jahre Engagement für die Opfer des Genozids

Aus einem Essay von Hasan Nuhanovic*

(Hasan Nuhanovic war während des Massakers in Srebrenica Dolmetscher für die niederländischen Blauhelme (Dutchbat), die Srebrenica im Juli 1995 als "UNO-Schutzzone" überwachten. Am Vorabend des Massakers in Srebrenica lehnten die Dutchbat-Offiziere es ab, seine Eltern und seinen Bruder in Schutz zu nehmen und lieferten sie somit den Schergen von Generals Mladic aus. Bis jetzt wurden nur die Überreste seines Vaters in einem Massengrab gefunden.)

Ein Land von tausend Massengräbern

Wenn ich in diesen Tagen einem meiner Bekannten begegne und ihm darüber berichte, dass die Überreste meines Vaters Ende Mai dieses Jahres (2007 ) identifiziert und dass das sekundäre Massengrab (in dem er gefunden wurde) unter dem Namen Cancari 05, Gemeinde Zvornik, bereits 2002 exhumiert wurde, wird mir zwangsläufig immer dieselbe Frage gestellt: "Und wieviel haben sie gefunden?", wobei mit dieser Frage der Anteil der gefundenen Knochen gemeint ist. Manchmal erkläre ich alle Einzelheiten, indem ich alle fehlenden Knochen aufzähle.

Hin und wieder gehe ich aber nicht auf jedes Detail ein und sage nur, dass etwa 75 % Skelettüberreste gefunden wurden. Einige meiner Verwandten und Freunde sagen daraufhin: "Na gut, bei meinem Bruder oder Vater wurde nur die obere Hälfte (des Skeletts, Anm. des Übersetz.) gefunden und fügen noch hinzu: "Nun denn, wenigstens wirst Du ihn würdevoll bestatten können." Dann werde ich gefragt, ob meine Mutter und mein Bruder gefunden wurden. Darauf antworte ich kopfschüttelnd und damit endet meistens unser Gespräch.

Im Büro des ICMP (International Commission on Missing Persons) in Tuzla, wo ich vor einigen Tagen wegen der ganzen Prozedur der Identifizierung der Knochenüberreste meines Vaters war, wurde mir gesagt, dass der Anteil von 75 % "gar nicht so schlecht wäre", wenn man bedenkt, dass es viele Familien gibt, denen mitgeteilt werden muss, dass der identifizierte Anteil der Skelettüberreste ihrer Angehörigen weniger als 25 % ausmacht. In solchen Fällen rät man den Angehörigen davon ab, die Überreste zu bestatten, für den Fall, dass "noch der eine oder andere Knochen" gefunden wird.

Eine Computeranalyse der Skelettüberreste meines Vaters hat nun ergeben, dass es sich zu 99,94 % um meinen Vater handelt.

Was für einen Prozentsatz wird eine Computeranalyse ergeben, wenn die Knochen meiner Mutter oder meines Bruders gefunden werden, ist ungewiss. Ich weiß nur, dass ich mir diesen Moment nicht herbeiwünsche. Wann auch immer es sein wird, ich versuche, nicht daran zu denken. Ich dachte, mein Herz ist seit langem versteinert - sofern es nicht vor zwölf Jahren schon zerbrach. Ich habe mich aber getäuscht. Wie muss es den Müttern ergehen, die ihre Söhne verloren haben!?

Wir haben so viele Massengräber, dass wir noch Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte brauchen werden, um sie auszugraben und die Opfer zu identifizieren ... Das Leben geht weiter. Bosnien soll zur Ruhe kommen und es muss versöhnt werden. An uns ist es auch, an diesem 11. Juli 2007, zum 12. Jahrestag des Massakers, wieder einige hundert Genozidopfer zu bestatten. Sie sollen auf dem Friedhof in Potocari, Gemeinde Srebrenica, ihre letzte Ruhe finden. (aus dem Bosnischen von Jasna Causevic)

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PRESSEERKLÄRUNG Srebrenica/Göttingen/Köln, den 13.10.1994

Notruf aus Srebrenica

"Es ist viel schlimmer, langsam zu verhungern oder zu erfrieren, als schnell getötet zu werden"

Ralph Giordano fordert "unmißverständliche Zeichen gegen die Aggressoren"

Mit einem dramatischen Hilferuf haben sich heute Nacht der Vorsitzende des Gemeinderates von Srebrenica, Osman Suljic, und der Direktor des örtlichen Krankenhauses, Avdo Hasanovic, per Funk über die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an die deutsche und internationale Öffentlichkeit gewandt. Die internationale Gemeinschaft habe die Stadt offensichtlich vergessen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Kleidung und Heizmaterial der zweieinhalb Jahren eingeschlossenen 36.000 Einwohner der Stadt Srebrenica sei fast ganz zusammengebrochen. "Es ist viel schlimmer, langsam zu verhungern oder zu erfrieren, als schnell getötet zu werden", sagte Suljic der GfbV.

Inzwischen befinden sich 90 Prozent der Bevölkerung, darunter 9.400 Kinder unter 15 Jahren und 6.000 alte Menschen über 60, in einem Zustand extremer Unterernährung. Von 12 vorgesehenen Konvois ließen die serbischen Belagerer nur drei in die Stadt hinein, so daß die notwendigsten Lebensmittel in Form von Reis, Mehl, Öl, Zucker, Salz und Konserven fehlen. Die Stadt Srebrenica sei völlig zerstört. 4000 Menschen sind ohne Obdach, 10.000 leben in Garagen oder Schuppen, der Rest in Ruinen oder Kellern.

Selbst eine medizinische Grundversorgung im Krankenhaus sei nicht mehr gewährleistet. In der Stadt sind nur noch 8 Ärzte tätig. Die letzten Medikamente werden in 5 Tagen ausgehen. Der Direktor des Krankenhauses berichtet von einer Welle von TBC-Erkrankungen seit dem Juni 1994. Unter Kindern sei Tuberkulose jetzt die häufigste Todesursache. Impfungen könnten schon längst nicht mehr stattfinden. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, das Trinkwasser verseucht. Die Einwohner von Srebrenica litten ferner an Hepatitis, Ruhrund Ungezieferbefall; die Fehlgeburten nehmen ständig zu. Man benötige dringend Antibiotika, Infusionen, Desinfektions- und Verbandsmaterial. Die psychische Situation der Menschen sei hoffnungslos. Allein in den letzten sechs Wochen sind 15 Selbstmorde bekanntgeworden.

Die 580 m hochgelegene Stadt Srebrenica steht vor einem schweren dritten Kriegswinter, der in Ostbosnien gewöhnlich 5 Monate anhält und Frostgrade bis zu 20 Grad aufweisen kann. Die Versorgung mit Kleidung, Decken und Heizmaterial ist nicht mehr sichergestellt. Die 4000 Obdachlosen werden erfrieren, wenn nicht schnell in großem Umfang Hilfe eintrifft.

Der Schriftsteller Ralph Giordano erklärte zu dieser Presseerklärung im folgenden Wortlaut: "Wann, Europa, machst Du endlich Schluß mit Deiner Schande, die Bosnien-Herzegowina heißt - wann? Hilfe für Srebrenica - sofort! Brot, Medikamente, Zuspruch! Und unmißverständliche Zeichen gegen die Aggressoren, daß ihre Stunde geschlagen hat, wenn sie weitermachen sollten. Ein Ende der Einkreisung, bevor der Winter eintritt, ein Ende des Hungerns, des Tötens, ein Ende des Wahnsinns - Frieden, endlich! Tilman Zülch schreibt: "Daß ausgerechnet die mitteleuropäischen bosnischen Muslime, Hunderttausende unschuldiger Kinder, Frauen und Männer in Srebrenica, Gorazde, Zepa, Bihac und Sarajevo von der westlichen Welt ihrem Schicksal überlassen werden, wird eines Tages auf uns alle zurückschlagen!" Ja!"

 

PRESSEERKLÄRUNG Srebrenica/Göttingen 18. 10. 1994

Dringender Appell aus Srebrenica: "Helft uns, die UNO läßt uns sterben!"

Gestern Nacht erreichte die Gesellschaft für bedrohte Völker ein verzweifelter Hilferuf aus der seit eineinhalb Jahren eingeschlossenen ostbosnischen Stadt Srebrenica. Der Direktor des örtlichen Krankenhauses, Avdo Hasanovic, teilte dem Vorsitzenden der GfbV, Tilman Zülch, über Funk mit, daß die medizinische Versorgung der 36.000 Einwohner zählenden Stadt - darunter über 9400 Kinder und 6000 alte Menschen – seit gestern zusammengebrochen sei, da fast alle überlebensnotwendigen Medikamente aufgebraucht worden seien. Eine Behandlung mit Antibiotika sei jetzt nicht mehr möglich. Die Menschen werden an gewöhnlich heilbaren Infektionen sterben. Außer Antibiotika fehlten Desinfektionsmittel, Infusionen, Wundsalben, Verbandsmaterial, Diuretika und Material für das Labor. Hasanovic teilte auf Anfrage mit, daß die in Srebrenica stationierten Blauhelme nichts dazu beitragen können oder wollen, um wenigstens die medizinische Grundversorgung sicherzustellen, da sie nach eigenen Angaben nur über Medikamente für den eigenen Bedarf verfügen.

Hasanovic bemerkte, daß sich auch die allgemeine Versorgungslage nicht gebessert habe, obwohl am Samstag (15.10.1994) ein UNHCR-Konvoi die Stadt erreichte. "Die gelieferten Lebensmittel deckten nur den Bedarf von zwei Tagen", sagte der Vorsitzende des Gemeinderates von Srebrenica, Osman Suljic. Die Versorgung der UN-Truppen in Srebrenica laufe übrigens getrennt, so daß die ausgehungerten Menschen vonseiten der UN-Soldaten nicht mit Hilfe rechnen könnten. Die Bürger der Stadt hätten auch keinen Einblick in die für UNO-Truppen gelieferten Lebensmittel. Die Lager für die Versorgung der Stadt und für die Blauhelme würden getrennt geführt, so daß keine Auskunft über den wirklichen Bestand der Nahrungsmittel- und Medikamentenvorräte in Srebrenica gegeben werden könne.

"Die Berichte aus Srebrenica lassen Zweifel am Sinn der Anwesenheit der UN-Truppen in der Stadt aufkommen," erklärte der Bundesvorsitzende der GfbV. "Die 'Arbeitsgrundlage' der Blauhelme kann sich nicht länger auf den bloßen militärische Schutz der Enklave beschränken, während die Menschen im Ghetto von Srebrenica an den Folgen ihrer totalen Isolation sterben. Die Tatenlosigkeit der UNO kommt einer Kollaboration mit den serbischen Aggressoren gleich und kann von den Betroffenen als Beihilfe zum Völkermord empfunden werden", sagte Zülch.