26.04.2005

Am Anfang war der Wahlbetrug

Die Entwicklung Afghanistans in Richtung Demokratisierung begann mit dem genauen Gegenteil.

Durch das Abkommen vom Petersberg (Bonn Dezember 2001) wurde für Afghanistan auf Vermittlung der Vereinten Nationen eine Interimsregierung unter Führung von Präsident Hamid Karzai bestimmt. Darüber hinaus wurden in diesem Abkommen die politischen Eckdaten für die nächsten zwei Jahre vorgegeben: nach sechs Monaten sollten Wahlen zu einer "Emergency Loya Jirga" stattfinden, die u.a. den Übergangspräsidenten für die nächsten eineinhalb Jahre wählen und eine verfassungsgebende Versammlung vorbereiten sollte. Danach sollten die Voraussetzungen gegeben sein, allgemeine und freie Wahlen durchzuführen und eine Verfassung abzustimmen.

Die für sechs Monate eingesetzte Interimsregierung war eine Zusammenstellung aus den verschiedenen Kriegsparteien unter Hinzuziehung der so genannten Zypern- und Rom-Gruppe um den Ex-König Zahir Schah. Dominiert wurde diese Interimsregierung durch die so genannte Nordallianz und hier im speziellen durch die Shura-ye Nezar (auch Panjshiris genannt). Letztere besetzte mit dem Verteidigungsminister, Innenminister und Außenminister die wichtigsten Schlüsselressorts. Laut dem Bonner Protokoll sollten die Ministerien in Übereinstimmung mit einer Kommission besetzt werden, um Klientelismus und Vetternwirtschaft zu verhindern. Dies war jedoch nicht geschehen; Korruption und Nepotismus waren und sind an der Tagesordnung. Die Ministerien waren nicht in der Lage, die in sie gesetzten Erwartungen nur ansatzweise zu erfüllen. Häufig nur rudimentär ausgestattet, besetzt mit wenigen Fachleuten, versuchten die Minister und höheren Angestellten, sich eine Ausgangsposition zu schaffen, um bei den nächsten eineinhalb Jahren wieder dabei zu sein. Langfristige Planungen wurden nicht unternommen, da eine allgemeine Ungewissheit herrschte, was nach der Übergangszeit passieren würde. Die Vereinten Nationen versuchten Sachkompetenz zu schaffen und wiesen jedem Ministerium einen "Berater" zu. Ashraf Ghani, der als Berater für Interimspräsident Karzai arbeitete, zeichnete für die Aufgabe verantwortlich, eine Kommission zusammenzustellen, die einen Gesamthaushalt entwerfen und in Abstimmung mit den Ministerien verabschieden soll. Da die ersten Ergebnisse erst im Mai vorlagen, kam es zu Verzögerung im Mittelabfluss der von der internationalen Gemeinschaft bereitgestellten Gelder. Dies wiederum bedingte, dass keine größeren Investitionen getätigt werden konnten.

Die Vereinten Nationen hatten weitere Schritte unternommen, um die verschiedenen Aktivitäten ihrer politischen und humanitären Missionen zu bündeln. Lakhdar Brahimi, der Beauftragte für Afghanistan, wurde zum neuen Leiter der neuen Dachorganisation "United Nations Assistance Mission in Afghanistan" (UNAMA). Das Land wurde mit diesen und den weiteren Maßnahmen de facto zu einem "Protektorat der Vereinten Nationen", auch wenn dies so nicht genannt wird. Die Vereinten Nationen implementierten eine Kommission, die unabhängig tagen sollte, um die Vorbereitung für die 2. Phase, die Wahl einer "Emergency Loya Jirga", vorzubereiten. Afghanistan wurde in acht Wahlbezirke eingeteilt, die sich an den alten Regierungsbezirken (woluswali) orientierten. Allerdings wurden Distriktänderungen vorgenommen, die eindeutig zu Lasten der Hazara gingen.

Es war eine indirekte Wahl in zwei Phasen, um ein Maximum an Sicherheit zu gewähren und Interferenzen zu erschweren. Pro 25.000 Einwohner wurden im ersten Wahldurchgang 20 Delegierte aus den örtlichen Shuras gewählt. Diese mussten eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, dass sie weder im Drogenhandel tätig waren noch irgendwelche Kriegs- oder sonstige Kapitalverbrechen verübt hatten. In einem zweiten Durchgang benannten dann die 20 Wahlmänner unter sich einen Abgeordneten, der in Kabul an der "Emergency Loya Jirga" teilnahm. Dieses Verfahren enthielt einige Unwägbarkeiten, da die Sicherheitslage lediglich in Kabul einigermaßen stabil war. In den Provinzen herrschten teilweise Koalitionen, die nicht mit der Interimsregierung zusammenarbeiteten, bzw. diese offen sabotierten. Die Aktivitäten von Unterstützern der "Emergency Loya Jirga" wurden teilweise schlichtweg verboten, Aktivisten mussten mit Verfolgung durch Provinzbehörden, teilweise sogar mit Anschlägen auf ihr Leben bezahlen. Verschiedene Parteien, die an der Interimsregierung beteiligt sind, wie z.B. Shura-ye Nezar, Jam’iat-e Islami, Hezb-e Wahdat und Jonbesh, hatten in den von ihnen dominierten Distrikten die Weisung herausgegeben, dass keiner sich zum Kandidaten aufstellen lassen durfte, der nicht die Erlaubnis der entsprechenden Partei besaß. Die Interimsregierung war zu schwach und nicht willens, Einfluss im Sinne dieser Vereinbarungen zu nehmen. Im Gegenteil, die verschiedenen Parteien, die an der Übergangsregierung beteiligt sind, waren die Hauptverursacher der Übergriffe.

Insgesamt herrschte ein ausgeprägtes Klima der Angst: Frauen legten ihre Burqa nicht ab, Männer rasierten ihren Bart nicht ab, an eine offene politische Arbeit war kaum zu denken. Der Geheimdienst der Shura-ye Nezar war allgegenwärtig. In den Tagen vor der "Emergency Loya Jirga" rollte eine Verhaftungswelle über Kabul, bei der namhafte Vertreter der Hezb-e Islami und deren Abspaltungen (es war von bis zu 1.000 Betroffenen die Rede) unter Hausarrest gestellt oder verhaftet wurden. In erster Linie waren diese Maßnahmen dazu gedacht, die Versuche der Islamisten (Rabbani, Sayyaf und Hekmatyar) zu vereiteln, sich unter einem Dach zu reorganisieren. Es trifft vor allem deshalb die Hezb-e Islami, da diese offiziell nicht an der Regierung beteiligt ist und Gulbuddin Hekmatyar in Afghanistan seine Aktivitäten wieder aufgenommen hatte. Die Nordallianz ist sich des Potenzials von Hekmatyar bewusst und hat die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Macht in Kabul von 1992-96 noch lebhaft in Erinnerung.

Die staatlichen Organe wie Polizei und Militär gelten als korrupt und parteiisch. So ist auch die mit deutscher Hilfe aufgebaute Polizei im wesentlichen dem Besitzstandsdenken von Ex-Innenminister Yunus Qanuni verhaftet. Staatlich organisierter Raub findet statt, die wichtigsten Stellen im gehobenen Polizeidienst wurden von Parteigängern Qanunis besetzt, denen z.T. jegliche Qualifikation dafür fehlte. Selbst der des Mordes an Abdur Rahman (Minister für Tourismus und Luftfahrt) bezichtigte General Jur’at, verrichtet seinen Dienst wie gewohnt und konfiszierte vor allem Fahrzeuge, die Paschtunen gehörten; diese bezichtigte er entweder der Kollaboration mit Al-Qaida oder aber der Mitgliedschaft. Die Denunziation bzw. die Angst vor der Denunziation ist weit verbreitet und dient dazu, Mitgliedern der Nordallianz Vorteile zu verschaffen.

Betrug statt Pluralität

Die "Emergency Loya Jirga", die ein Stück mehr Pluralität nach Afghanistan bringen sollte, muss als gescheitert gelten. Als Resümée lässt sich festhalten, dass es massive Beeinflussungen gab, um Kandidaten der jetzigen Übergangsregierung durchzubekommen, oder auch Kandidaten der lokalen Kommandeure oder Gouverneure, die durchaus auf eigene Rechnung arbeiten und sich nicht unbedingt einer der an der Macht in Kabul sitzenden Gruppen zuordnen. Verzweifelte Versuche von wenigen UN- bzw. internationalen Beobachtern, die Wahlen gerechter zu gestalten, wurden von den zentralen und lokalen Autoritäten, aber auch vom Vorsitzenden und anderen Mitgliedern der Loya Jirga-Kommission sowie von der UN-Spitze massiv unterlaufen. Die afghanischen und internationalen Wahlbeobachter waren einer desaströsen Logistik ausgeliefert und bewegten sich ohne jeglichen Schutz. Neben den traditionellen Formen der Manipulation durch Bestechung kam es zu Bedrohungen bis hin zur Tötung einzelner Kandidaten oder deren Familienangehörigen. So wurde z.B. in der nördlichen Provinz Samangan der älteste Sohn eines Kandidaten erschossen, weil man seiner selbst nicht habhaft werden konnte. In Ghor wurden zwei gewählte Mitglieder einer uns bekannten und unterstützten Shura ermordet. Solche Vorkommnisse gab es überall in Afghanistan. Die Anrainerstaaten taten ihr übriges, um die Situation schwieriger zu gestalten. Massive Propaganda – wie etwa aus dem Iran – gegen die ISAF und den gesamten Loya Jirga-Prozess waren gang und gäbe. Pakistan in den südöstlichen Regionen und Usbekistan sowie die Türkei in den nördlichen Regionen waren daran beteiligt, die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Viel Geld wurde aufgewendet, um die eigenen Kandidaten zu positionieren. Half dies nicht, wurde zu den unterschiedlichen Mitteln der Einschüchterung gegriffen. Im Reiche Dostums beispielsweise, in der Provinz Faryab, wurden die Paschtunen weitgehend an der aktiven Teilnahme am Wahlprozess gehindert, obwohl diese immerhin ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Selbst die wenigen paschtunischen Kandidaten, die mit Hilfe der UNO die erste Runde der Wahlen erreicht hatten, wurden von ihm bzw. seinen Männern aufgesucht und mit den Worten "Wahlen sind Dein Tod" vor die Alternative gestellt, aufrecht dem Untergang entgegen zu gehen oder zu fliehen und an den Wahlen nicht teilzunehmen. An anderen Orten, wie Ghorband oder Jalalabad, wurden Kandidaten, die erfolgreich die erste Runde überstanden hatten, in Container gesteckt oder durch bewaffnete Milizen daran gehindert, sich am Tag der zweiten Runde zum Wahlort zu begeben. Einigen gelang die Flucht, um über zum Teil abenteuerliche Wege nach Kabul zu kommen und hier vor der Islami Melli Qaumi Shura, einem demokratischen Bündnis unabhängiger Jirgas aus den verschiedensten Provinzen, Zeugnis abzulegen. Diese sammelten die Berichte und übergaben sie der Kommission, die für die Vorbereitung der "Emergency Loya Jirga" und für die Wahlen zuständig war. Einige Mitglieder der Kommission nahmen sich der Beschwerden an und wollten die inkriminierten Wahlen aussetzen, neue festlegen oder sogar für ungültig erklären. Doch in vielen Fällen musste man mit ansehen, wie das mühsam im Konsens erarbeitete Regelwerk durch direkte Intervention der UNO und/oder der jetzigen Regierung ausgesetzt wurde. So sah dieses vor, dass kein Vertreter der Regierung als Kandidat an den Wahlen teilnehmen dürfe, wenn er nicht vier Wochen vor Beginn des gesamten Wahlverfahrens zurückgetreten war.

In vielen Fällen versuchten trotzdem Gouverneure wie Dostum, Sayyaf oder Tadj Mohammad (Kabul), sich durch direkte Wahlen legitimieren zu lassen. Bei den Wahlveranstaltungen waren sie durch aggressives Auftreten, manchmal sogar durch direkte Bedrohung der oppositionellen Kandidaten aufgefallen. Die Kommission hätte in diesen Fällen den Ausschluss der Kandidaten beschließen müssen; nach dem Regelwerk der Regierung hätten diese sogar bestraft und inhaftiert gehört. Stattdessen bekamen sie Hilfestellung durch die UNO, speziell durch Brahimi. Sein diesbezüglicher massiver Druck auf die Loya Jirga-Kommission unterlief den demokratischen Prozess, der sich mit der Einberufung der "Emergency Loya Jirga" herausgebildet hatte. Ferner beschlossen Brahimi, Karzai, Ashraf Ghani und der Sondergesandte der USA, Khalil Khalilzad, dass alle Gouverneure Afghanistans sowie die wichtigen Milizenchefs ungewählt an der "Emergency Loya Jirga" teilnehmen sollten. In den letzen zwei Tagen wurde so die Anzahl der Delegierten von 1.400 auf 1.651 erhöht. Die Gouverneure und Milizenchefs sollten die Mehrheit für Karzai garantieren. Die Rechnung wurde aber zunächst ohne den Wirt gemacht. Am Vorabend der Eröffnungsfeier verkündete die Mehrzahl der unter diesen schwierigen Bedingungen gewählten Delegierten, dass sie sich für eine Präsidentschaft des Ex-Königs Zahir Shah aussprechen wollten. Versuche der Übergangsregierung und der UNO, die Abgeordneten zu überzeugen, schlugen fehl. Die Regierung, die UNO und die USA griffen deshalb zum letzten Mittel: sie vertagten die Eröffnung der "Emergency Loya Jirga" zunächst um 24 Stunden auf 15 Uhr des 10. Juni, um die Zeit für die Umstimmungsversuche bei den Delegierten zu verlängern; gleichzeitig wurde der Druck auf den Ex-König erhöht. Schließlich verkündete Khalilzad gegen 17 Uhr Ortszeit via BBC, nach dreistündigem Gespräch mit dem Ex-König, dass dieser nicht länger Kandidat sei, sondern Karzai unterstütze. Im Gegensatz dazu hatte Zahir Shah einen Tag zuvor, ebenfalls via BBC, verlautbaren lassen, dass er bereit sei, jede Aufgabe zu übernehmen, die ihm das Volk antragen würde. Aus der unmittelbaren Umgebung des Ex-Königs verlautete, dass dieser massiv unter Druck gesetzt worden war. Bereits vor Bekanntgabe der neuen Verlautbarung des Königs begannen die verschiedenen Gouverneure auf dem Loya Jirga-Gelände, die Delegierten per Unterschrift auf Karzai zu verpflichten.

Während der Tagung wurde immer wieder gegen das Bonner Abkommen verstoßen, die Abgeordneten wurden in ihrer Rede- und Wahlfreiheit immer wieder stark beeinträchtigt. Selbst als der Sekretär des Vorsitzenden der Loya Jirga geschlagen wurde, sahen sich weder Karzai noch die UNO zum Einschreiten veranlasst. Die Art und Weise, wie die USA und die UNO in den letzen Tagen den Wahlprozess beeinflussten, führte nicht zu einer Stabilität, geschweige denn zu einer Demokratisierung Afghanistans.