29.01.2007

Aktuelle Situation in Tschetschenien

Menschenrechtslage

Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus. Beispielsweise wurde der frühere tschetschenische Kommandeur einer Kampfeinheit Movladi Baisarov in Moskau erschossen.

Im Jahre 2006 wurden in Tschetschenien Schätzungen zufolge 186 Menschen entführt, bei 63 von ihnen ist das Schicksal unbekannt. Elf wurden tot aufgefunden. Zwischen 2002 und 2006 sind 1.976 Menschen verschwunden.

Die Zahl der Familien, die Anzeige erstatten, weil Angehörige ermordet, entführt oder gefoltert wurden, nahm rapide ab. Es ist jedoch nicht von einem Rückgang von Verbrechen auszugehen. Die Angst der Menschen davor, eine offizielle Anzeige zu erstatten, hat dagegen zugenommen.

Die Situation hat sich mit der Übernahme der Kontrolle der Strafverfolgung durch tschetschenische Behörden verschlechtert. Die Menschen haben keine Angst über Verbrechen von russischen Einheiten zu sprechen, doch getrauen sie sich nicht, sich über die tschetschenischen Sicherheitskräfte zu beschweren. Das ist nachvollziehbar, weil russische Einheiten irgendwann das Land verlassen, während die tschetschnischen Kräfte im Land bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass Sicherheits- und Strafvollzugsbehörden nur in seltensten Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt wurden. Wird dennoch eine Anzeige erstattet, kommt es vor, dass die Polizei Anweisungen gibt diese zurückzunehmen. Man solle sich nicht die Chance verspielen, dass ein Vermisster wieder auftaucht. Es könne ja sein, dass noch ein Vermittler auftaucht und das Problem ließe sich dann sicher lösen.

Die Antiterrorismus-Kampagne, die 1999 begonnen hatte, führte bisher zu keinen positiven Resultaten. Im Gegenteil: Die Kriminalitätsrate stieg extrem an. Hohe Opferzahlen sind zu beklagen. Eines der Hauptverbrechen ist Folter. Sie wird genutzt, um Geständnisse zu erzwingen. Liegt das erpresste Geständnis vor, werden die Betroffenen für Rebellen erklärt und können so ganz offiziell verhaftet werden.

 

Die tschetschenischen Kämpfer

Im Sommer des Jahres 2006 gab Russland bekannt, dass es gelungen sei, den Rückhalt der tschetschenischen Kämpfer zu brechen. Der Tschetschenenpräsident Abdul-Khalim Sadulaev und der Topterrorist Shamil Basaev waren getötet worden.

Heute kann man sich über diese Aussage nur wundern, weil sich die Sicherheitslage in Tschetschenien erneut verschlechtert hat. Der neue tschetschenische Anführer Doku Umarov ist einer der letzten überlebenden Auf-ständischen der alten Garde. Ihm gelang es neue Truppen zu rekrutieren. Anscheinend hat er auch zwei neue Fronten, "Ural" und "Wolga Region", eingeführt, was beweisen würde, dass er Angriffe in Zentralrussland vor-bereitet.

Auch gibt er den tschetschenischen Kämpfern eine neue Perspektive. Vor ihm wurde davon gesprochen einen Staat nach islamischen Vorbild aufzubauen, während es jetzt nur noch um die Unabhängigkeit von Russland geht. Er will ein Tschetschenien, das auf dem Abkommen zwischen Russland und Tschetschenien von 1997 basiert.

Seine Rhetorik hat sich von der früheren islamischen abgewandt und ist jetzt sekulär geprägt. Er betont, dass es wichtig sei, die internationalen Gesetze zu befolgen und die Menschenrechte einzuhalten. Diese Veränderung war für die Bewegung überlebenswichtig, um mehr Unterstützer außerhalb Russlands zu erreichen. Von dort kommen 10 % der Finanzen für den bewaffneten Kampf. Die meiste finanzielle Unterstützung kommt von tsche-tschenischen Beamten der pro-russischen Regierung, Bürgermeistern und aus kriminellen Kreisen.

Nach Angaben des Präsidenten Alkhanov und des russischen Generaloberst Barjaev sind die Kämpfer stärker geworden. Sie errichten Straßenblockaden, wo sie Passanten kontrollieren, um Beamte der lokalen Vollzugsbe-hörden zu finden. Auch gibt es neue Taktiken, um das Militär und die Polizei auf den Straßen aus dem Hinterhalt anzugreifen und zu bombardieren. Den pro-russischen tschetschenischen Autoritäten gelingt es kaum, die Kämp-fer unter Kontrolle zu halten, deswegen bleiben Teile Tschetscheniens außerhalb der offizielle staatlichen Kon-trolle.

 

Meinungsfreiheit in Tschetschenien

Nach Angaben von Freedom House ist die Freiheit in den 1990er Jahren in Tschetschenien massiv gesunken. Es gibt in der Politik keinen Pluralismus. Tschetschenische Politiker, die sich für die Unabhängigkeit Tschetscheniens einsetzen, werden von ihrer Arbeit abgehalten.

Fernseh- und Radioprogramme kommen aus Russland, das auch die meisten Printmedien kontrolliert. Journalisten schaffen es kaum nach Tschetschenien einzureisen. Wird es ihnen dennoch erlaubt, werden sie von russischen Truppen begleitet. Non-profit-Organisationen, die sich mit Menschenrechten und Folter in Tschetschenien auseinandersetzen werden, werden verfolgt und bedroht.

Die Gesetzlosigkeit in Tschetschenien führt zu einer extrem hohen Zahl an Verbrechen, die sowohl von russischen als auch von tschetschenischen Truppen verübt werden. Russische Soldaten werden beschuldigt zu ver-prügeln, zu vergewaltigen, zu morden und illegale Filtrationslager zu unterhalten. Sie geniessen Straflosigkeit, d.h. nur ein kleiner Prozentsatz der Täter wurde für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.

 

Russlands Strategie

Russlands Regierung ist dabei seine Kampfstrategie in Tschetschenien zu verändern. Ein wichtiger Schritt wurde im August 2006 unternommen, als die Sicherheit im Nordkaukasus zum exklusiven Arbeitsbereich des russi-schen Innenministeriums ernannt wurde.

Generaloberst Rashid Nurgaliyev wurde auserwählt dieses neue Netzwerk zu leiten und hat versprochen neue weitreichende Taktiken in der Terrorismusbekämpfung in Tschetschenien einzuführen: die Einrichtung von Datenbanken, die Beobachtung von etwa 200 Webseiten, die Durchführung verdeckter Operationen zur Aufde-ckung von Korruption und die Vernichtung der Finanzierungsnetzwerke der bewaffneten Gruppen. Des Weiteren plant er die Wehrdienstleistenden durch Berufssoldaten zu ersetzen.

 

Gesundheitliche Situation der tschetschenischen Bevölkerung

Die beiden tschetschenischen Kriege haben für die Bevölkerung ernsthafte gesundheitliche Probleme zur Folge. Das Gesundheitssystem ist dem Großteil der Menschen nicht zugänglich. Nach Angaben der russischen Regierung gibt es 33.000 Kriegsinvaliden, die durch Bomben oder Minen verletzt wurden.

Immer noch leiden viele Menschen darunter, dass giftige Substanzen durch Bombardierung, z.B. von Chemiefabriken freigesetzt wurden.

Die Tuberkulose- und die Müttersterblichkeitsraten bleiben extrem hoch.

Über 40 Prozent, d.h. mehr als 2.000 der rund 5.000 Kinder, die 2006 in Tschetschenien auf die Welt kamen, sind krank. Als Grund dafür wird die unzureichende medizinische Versorgung in Tschetschenien angeben.

Ferner ist Drogensucht weit verbreitet. Es gibt etwa 10.000 Heroinabhängige, von denen mehr als 10% HIV positiv sind. 5% der Gesamtbevölkerung sind HIV positiv – Tendenz steigend.

86% der Bevölkerung leiden unter psychischen Problemen. Durch den Krieg sind mindestens 26.000 Kinder zu Waisen geworden. Die meisten von ihnen können aufgrund von Traumata nicht die Schule besuchen. Das ist besonders schlimm für die Zukunft Tschetscheniens, da Kinder 40-50% der Bevölkerung ausmachen.

 

Umweltprobleme

Die ernsthaften Umweltprobleme verschlimmern die genannten Gesundheitsprobleme. Während der Kriege wurden viele Öl- und Chemiefabriken geschlossen, die daraufhin geplündert wurden. Aus dem kontaminierten Material haben die Tschetschenen ihre Häuser gebaut und leben jetzt inmitten von Gefahrengut. Die Menschen müssen über Sondermüll-Deponien und Gefahrengut informiert werden, damit eine weitere Verbreitung im Land verhindert werden kann.

Das Wasser in Grosny wurde als gefährlich eingestuft. Das Land, das die Wasserzuführung umgibt, ist mit Öl verseucht. Öl sickert so in die Wasseranschlüsse. Die Qualität ist so schlecht, dass auch Kochen die gefährliche Stoffe nicht abtötet.

 

Humanitäre Hilfe

Im August 2006 haben die Vereinten Nationen die Sicherheitsstufe auf die "Phase 4" vermindert, was eine größere Entlastung für humanitäre Helfer bedeutet. So steigt die Hoffnung, dass die UN endlich Büros in Tsche-tschenien einrichten.

 

Wirtschaft

Die russische Regierung will Tschetschenien mit Billionen von Rubeln beim Wiederaufbau helfen. Das Gesundheits- und Bildungswesen muss erneuert, Häuser gebaut, Arbeitsstellen geschaffen, die Umweltsituation verbes-sert und die Landwirtschaft unterstützt werden. Doch bisher ist nicht viel passiert, weil die Gelder durch die weitverbreitete Korruption der russischen und tschetschenischen Bürokraten verschwinden. Nur 40% der seit 2000 aufgewendeten 62 Billionen Rubel haben Tschetschenien erreicht.

Quelle: Viner, Yelena: The future of Chehnya, 25. Januar 2007. (www.eurasiacenter.org)