22.04.2005

Abgeschoben in den Tod

Tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland - Fehlende Perspektive, fehlendes Verständnis

"Mein Bruder sitzt in Abschiebehaft. Was sollen wir tun?" fragt die junge Frau am Telefon. Der 1970 geborene Adlan hatte seit 1994 die Unabhängigkeit Tschetscheniens unterstützt und auch einige Monate gegen die russischen Soldaten in seinem Land gekämpft. Dann wurde er festgenommen und in einem Filtrationslager gefoltert. Verwandte konnten ihn freikaufen und seine Flucht nach Deutschland organisieren. Hier jedoch werden die Asylanträge der Tschetschenen vom Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit dem Hinweis auf die innerstaatliche Fluchtalternative abgelehnt. Adlan fühlte sich nach dem negativen Bescheid bedroht und diskriminiert. Als seine Abschiebung bevor stand, wusste er sich nicht mehr zu helfen und floh weiter nach Norwegen. Die Behörden des Landes jedoch schoben ihn wieder nach Deutschland ab, nach Aussage des Norwegian Refugee Council in der Überzeugung, hier sei er sicher. über Adlans weiteres Schicksal ist noch nicht entschieden. Die GfbV bemüht sich in Zusammenarbeit mit seinem Anwalt und lokalen Unterstützern darum, Adlan aus der Haft zu befreien und seine Abschiebung abzuwenden.

Kern- und Angelpunkt der Praxis in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist die inländische Fluchtalternative. Russische und tschetschenische Organisationen haben daher Informationen zu Fällen von Diskriminierung der tschetschenischen Flüchtlinge in der Russischen Föderation gesammelt. Zusätzlich konnten in der letzten Zeit Schicksale von aus europäischen Ländern nach Moskau abgeschobenen Flüchtlingen dokumentiert werden, aus denen hervorgeht, dass einige Flüchtlinge direkt am Rollfeld des Moskauer Flughafens vom russischen Geheimdienst verhaftet wurden und teilweise danach verschwanden. Mehrere Bundestagsabgeordnete wandten sich an das Auswärtige Amt und an die Deutsche Botschaft in Moskau mit der Forderung nach Aufklärung dieser Fälle und nach einer Aussetzung der Abschiebungen, bis klar ist, was mit diesen Menschen passiert ist. Vom Auswärtigen Amt kam die lapidare Antwort, diese Einzelfälle seien weder allgemeingültig, noch rechtfertigten sie eine Änderung der momentanen Praxis.

Das Auswärtige Amt veröffentlicht regelmäßig Lageberichte zu den Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen. In diesen Berichten werden asylrelevante Fragen und die Möglichkeiten der Rückführung der Flüchtlinge diskutiert. Der aktuelle Lagebericht vom Januar 2004 ist in weiten Teilen sehr kritisch und spiegelt die politische und menschenrechtliche Situation in Tschetschenien und der Russischen Föderation recht wirklichkeitsgetreu wider. Ein Satz jedoch lässt aufhorchen: "Die Frage, ob eine legale Niederlassung von aus Deutschland rückgeführten Tschetschenen in der Russischen Föderation möglich sei, wurde von Memorial – trotz aller bestehenden Schwierigkeiten – bejaht." Eine Nachfrage bei Svetlana Gannushkina, Vorsitzende der Organisation "Bürgerhilfe", die die meisten Informationen über Flüchtlinge sammelt und international zur Verfügung stellt, ergab ein anderes Bild: "Ihr Außenministerium verfälscht die von Memorial, insbesondere von mir erhaltenen Informationen. Ich sprach nur davon, dass ich keine Fälle kenne, in denen ein Tschetschene alleine deswegen einer Verfolgung ausgesetzt war, weil er im Ausland war und wieder abgeschoben wurde. Das bedeutet nicht, dass er einen Platz finden kann, wo er registriert wird und ruhig leben kann, da es für Tschetschenen einen solchen Ort in Russland nicht gibt".

Wenn der erste Asylantrag unter Hinweis auf die inländische Fluchtalternative abgelehnt wurde, muss häufig ein Folgeantrag gestellt werden, in dem neue Erkenntnisse und die Dokumentation der individuellen Verfolgung belegt werden müssen. Dies ist für einige Tschetschenen, besonders für Frauen und Familien, deren Mitglieder nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, nicht einfach. Hier kommen dann anderen Faktoren, etwa die Traumatisierung durch den Krieg, Verletzungen und psychische Krankheiten ins Spiel, die ein Leben in Russland unmöglich machen würden. Diese Punkte zu beweisen ist oft sehr kompliziert und langwierig. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der tschetschenischen Flüchtlinge mit einer Duldung (Aussetzung der Abschiebung) manchmal jahrelang ohne langfristige Perspektive in Deutschland ihr Dasein fristen. Sich politisch zu engagieren ist gefährlich. Der GfbV liegen zahlreiche Fälle der Einschüchterung politisch aktiver Tschetschenen durch den russischen Geheimdienst vor. In diesem Zusammenhang ist der internationale Austausch über die Flüchtlingspolitik sehr wichtig. In der Schweiz, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Norwegen werden – wie in Deutschland – Schicksale dokumentiert und anderen Tschetschenienunterstützern europaweit zur politischen Arbeit für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Diese Organisationen gehen davon aus, dass im Moment in Europa etwa 50.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien leben, 5.000 von ihnen in Deutschland.