13.06.2012

11.541 rote Stühle zum Andenken an die getöteten Bürger von Sarajevo

Aus bedrohte völker_pogrom 269-270, 1/2012

Am 6. April 2012, dem 20. Jahrestag des Beginns einer der längsten Belagerungen einer Stadt in der modernen Geschichte, wurden auf der Hauptstrasse von Sarajevo 11.541 rote Stühle aufgestellt – einer für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die während der 1.425 Tage dauernden Einkesselung getötet wurden. Die Einwohner der bosnischen Hauptstadt gingen trauernd an diesen leeren Stühlen entlang, legten Blumen darauf und erwiesen so den getöteten Zivilisten und Verteidigern von Sarajevo die Ehre. Verwandte und Freunde suchten nach den Namen ihrer Liebsten. Überall waren Schmerz und Tränen zu sehen. Mit ihnen trauerten aber auch zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die aus der ganzen Welt nach Sarajevo gekommen waren. Unter ihnen befanden sich auch Journalisten und Kriegsreporter wie Roy Gutman und Ed Vulliamy, die vor 20 Jahren über den Krieg in Bosnien-Herzegowina berichtet haben.

Uns allen standen an diesem Tag die schrecklichen Ereignisse von damals vor Augen. Während ich Blumen auf den Stuhl für meinen Neffen Tarik Kapetanovi? legte, erinnerte ich mich schmerzhaft an den 21. August 1992. Damals wurde sein Körper von einer „Karadzic-Granate“ zerfetzt. Er war das einzige Kind meiner Schwester, gerade 21 Jahre alt und studierte Journalistik. Dann suchte ich weiter nach dem Namen meiner Tante Zehra Horo. Sie war 65 Jahre alt, als sie zusammen mit 30 anderen Bewohnern des von Tschetniks besetzten Altenheims in Nedzarici durch Kälte und Hunger starb.

Die stärksten Emotionen erregten die kleinen Stühle von Kindern. Eltern und Angehörige legten nicht nur Blumen, sondern auch Spielzeuge darauf. Während der Belagerung von Sarajevo wurden 1.601 Kinder getötet. Unter ihnen war auch Samir Ibrahimagic, ein neunjähriger fröhlicher Junge. Er wurde am 18. September 1992 durch eine Granate der Tschetniks getötet, als er mit Freunden vor seinem Haus spielte. Seine Mutter Emira hat nach seinem Tod Tagebuch geführt, so mit Samir gesprochen und ihm über den täglichen Überlebenskampf berichtet. Dieses Tagebuch wurde 2009 von der bosnischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker veröffentlicht.

Während der Belagerung durch serbische Truppen waren die etwa 500.000 Einwohner von Sarajevo ohne Strom, es gab kein fließend Wasser, die Heizungen funktionierten nicht und die Nahrungsmittel waren äußerst knapp. Überall lauerten Scharfschützen, dauernd schlugen Granaten ein. In der Stadt gab es keinen sicheren Ort. Jeder konnte überall und jederzeit getötet oder verwundet werden. Um zu überleben, mussten die Menschen jedoch auf die Straße gehen. Sie mussten Holz sammeln, Wasser holen oder Brot kaufen und so auch ihr Leben riskieren. Während die Stadt unter Granatbeschuss lag, vertrieben die ehemalige Jugoslawische Volksarmee und Karadzics SDS-Partei die nichtserbische Bevölkerung aus dem weiteren Umkreis von Sarajevo. Sie begingen Massaker, einzelne Morde, Vergewaltigungen. Privates Eigentum wurde mutwillig zerstört. An der Belagerung von Sarajevo beteiligten sich rund 10.000 Soldaten mit etwa 60 Panzern und 39 gepanzerten Fahrzeugen. Schwere Waffen richteten sie vor allem dorthin, wo sich viele Menschen aufhielten. Gefeuert wurde auf Warteschlangen für Brot, Wasser oder humanitäre Hilfe, auf Marktplätze, Schulen, Spielplätze, Krankenhäuser oder einfach auf schutzlose Passanten. Gezielt wurde auch auf Straßenbahnen, Busse und PKW geschossen. Im Stadtzentrum, dem Ortsteil Marindvor, mussten die Menschen von einem Schutzort zum anderen rennen. Die Straße, in der sich das Hotel „Holiday Inn“ befindet, hieß „Scharfschützenallee“. Dort wurden Dutzende Zivilisten erschossen.

In den besetzten Teilen von Sarajevo wurden Frauen von den Karadzic-Truppen systematisch vergewaltigt. So wurde ihnen nicht nur im Stadtteil Grbavica Gewalt angetan. Auch in den Stadtteilen Ilidza und Vogosca wurden viele Bosnierinnen in den Frauenlagern „Kula“ bzw. „Kod Sonje“ („Bei Sonja“) vergewaltigt. Das Lager „Kod Sonje“ hat auch der kanadische General Lewis McKenzie, Kommandeur der UNO-Mission in Sarajevo, besucht. Auch er hat dort gefangene Frauen vergewaltigt. Doch bis heute musste er sich nicht dafür verantworten. Kaum eine der Frauen hat die Torturen überlebt. In Kürze wird der Kriegsverbrecher Borislav Herak, der u.a. wegen Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, freigelassen. Er hatte gestanden, im Lager „Kod Sonje“ fünf Frauen vergewaltigt und anschließend getötet zu haben.

Mitte 1993 wurde unterhalb des Flughafens von Sarajevo heimlich ein Tunnel gegraben. Er verband die Siedlungen Dobrinja mit Butmir, war etwa 800 Meter lang, 1,65 bis 1,70 Meter hoch und 85 bis 90 Zentimeter breit. Durch diesen Tunnel wurden Lebensmittel in die Stadt gebracht. Er hat vielen Einwohnern das Leben gerettet.

Die Belagerung Sarajevos hat nicht nur Tausenden das Leben gekostet. Es wurden auch 60.378 Zivilisten verwundet, unter ihnen 14.919 Kinder. Für diese Verbrechen trägt neben Radovan Karadzic und Slobodan Milosevic auch die internationale Gemeinschaft große Verantwortung. Sie hatte gegen die Verteidiger von Bosnien und Herzegowina und damit auch gegen Sarajevo ein Waffenembargo verhängt und so deutlich Partei ergriffen. Deshalb muss sie sich vorwerfen lassen, zum Mittäter geworden zu sein. Statt militärisch einzugreifen, hat die Weltgemeinschaft Blauhelme mit dem einzigen Mandat nach Bosnien geschickt, die die Lieferung humanitärer Hilfe zu beaufsichtigen. Humanitäre Hilfe – dazu gehörten auch die 5.000 Särge, die die UN im Dezember 1992 nach Sarajevo schickten.

Im Januar 1995 kamen 70 Bürgermeister aus der ganzen Welt nach Sarajevo, um den 1000. Tag der Belagerung, aber auch des Widerstandes zu begehen. Sie waren erschüttert über die Zerstörungen in der Stadt, aber gleichzeitig auch voller Bewunderung für die Menschen, die so lange isoliert von der Außenwelt ausgehalten und gelitten haben, ohne den Glauben an den Sieg zu verlieren.

Die Aggression und die Kriegsereignisse haben in der Stadt tiefe Narben hinterlassen. Unersetzlich sind die menschlichen Opfer, ungeheuerlich die Leiden der Überlebenden, riesig sind die materiellen Zerstörungen und Verluste. Die Stellung Sarajevos als Hauptstadt des Staates und der Entität Föderation von Bosnien und Herzegowina (BiH) wurde bis heute verfassungsrechtlich und gesetzlich nicht geregelt. Sarajevo ist heute geteilt, die gewachsene, urbane und ökonomische Struktur der Stadt ist zerschnitten. Ost-Sarajevo gehört zur Republika Srpska, während der Großteil des Vorkriegsstadtgebietes zum Kanton Sarajevo gehört und somit auch zur Föderation von BiH.

Die Verbrechen an den Bürgern von Sarajevo wurden vom Internationalen Gericht für Kriegsverbrechen ICTY in Den Haag als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Die Generäle Dragomir Milosevic und Stanislav Galic wurden mit 29 Jahren bzw. lebenslangem Gefängnis bestraft. Beide wurden wegen grausamer und gezielter Tötung, Verwundung von Zivilisten, psychischem Terror und großflächiger Zerstörung der Stadt verurteilt.

Tausende Menschen sind tot, Tausende trauern. Eine Versöhnung ist für die Überlebenden nicht mögliche, so lange die Täter ihre Schuld nicht anerkennen und der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wurde.


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