10.07.2007

10 Jahre Gesellschaft für bedrohte Völker Sektion Bosnien und Herzegowina - 15 Jahre Engagement für die Opfer des Genozids

12. Jahrestag des Massakers von Srebrenica

Vor dem Privathaus des damaligen Bundeskanzlers Kohl in Oggersheim protestierten wir gegen die Tatenlosigkeit der deutschen Bundesregierung während des Bosnienkrieges

"Wenn morgen wieder 465 der ermordeten 8376 Knaben und Männer Srebrenicas beerdigt werden und damit bereits 2907 der Genozid-Opfer auf dem Friedhof von Potocari liegen, dann wird es Zeit, dass man der Stadt des größten Massakers seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa die Selbstverwaltung gewährt", sagte der Präsident der GfbV-International Tilman Zülchi am Dienstag in Sarajevo. "Srebrenica darf nicht länger Teil der serbischen Teilrepublik "Srpska" bleiben, einer Region, die niemals in der bosnischen Geschichte existiert hat und durch die Vertreibung und Vernichtung der nichtserbischen Hälfte ihrer Bevölkerung entstanden ist." Die überlebenden Rückkehrerinnen, die Mütter von Srebrenica mit ihren nachgewachsenen Kindern, hätten ein Recht darauf, sich gemeinsam mit den gutwilligen serbisch-bosnischen Einwohnern der Stadt und der 56 zur ehemaligen UN-Schutzzone gehörigen Dörfer selbst zu verwalten.

 

Bis heute sind 3893 der exhumierten Opfer noch nicht identifiziert und 1576 der namentlich bekannten Ermordeten noch nicht gefunden. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte in diesem Jahr festgestellt, dass in Srebrenica Genozid an der bosnisch-muslimischen Bevölkerung verübt wurde. Eine gemeinsame serbisch-bosniakische Kommission bestätigte 2005 in Banja Luka, dass 19473 serbische Männer aus Bosnien und Serbien an den Verbrechen beteiligt waren, von denen sich bis heute noch 810 in öffentlichen Ämtern der so genannten Republik Srpska befinden. 504 von ihnen leisten nach wie vor ihren Polizeidienst in Srebrenica und in den benachbarten, ethnisch gesäuberten Städten an der Drina.

 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker und ihre bosnische Sektion begrüßen den Erfolg des bisherigen Hohen Repräsentanten und des Sondergesandten der EU, Dr. Christian Schwarz-Schilling, der Ende Juni 2oo7 den Friedhof, das Mahnmal und die gegenüberliegende Akkumulatorenfabrik in Potocari bei Srebrenica aus der sogenannten "Republik Srpska" heraus- löste. Dieser Ort wird jetzt der bosnischen Zentralregierung unterstellt. Bis heute verweigert der Polizeipräsident der "Republik Srpska", die neue Situation anzuerkennen, seine Polizei zurückzuziehen und der gesamtstaatlichen Polizei SIPA in Potocari die Verantwortung zu übertragen. In Potocari hatten niederländische Blauhelmsoldaten den serbischen Militäreinheiten aus Bosnien und Serbien bei der Selektion in Männer und ältere Knaben einerseits und Frauen, Kinder und Alte andererseits assistiert. "Doch diese Herauslösung kann nur ein erster Schritt sein", erklärte die Direktorin der Gesellschaft für bedrohte Völker Sektion Bosnien & Herzegowina, Fadila Memisevicii. "Christian Schwarz-Schilling hätte rechtzeitig einen Schritt weiter gehen müssen. Diesen zweiten Schritt erwarten wir jetzt von dem neuen Hohen Repräsentant Miroslav Lajcak aus der Slowakei."

 

"Wir Mütter treffen hier in Srebrenica nach unserer Rückkehr täglich auf diejenigen, die uns am 11. Juli 1995 in Potocari unsere Söhne aus den Armen gerissen haben. Diese Männer sind heute in der Polizei beschäftig und sollen über unseren Toten "wachen", die auf dem Friedhof in Potocari Ruhe finden sollen", kritisierte Hatidza Mehmedovic, Leiterin des GfbV-Büros in Srebrenica. Frau Mehmedovic kehrte im Oktober 2002 allein nach Srebrenica zurück. Sie hatte am 11. Juli 1995 ihre beiden minderjährigen Söhne, ihren Ehemann wie auch alle anderen männlichen Familienangehörigen verloren.

 

In der Stadt Srebrenica und den 56 Bergdörfern der Großgemeinde leben heute etwa 4500 Rückkehrer in extremer Armut. Die meisten von ihnen sind die Witwen mit ihren Kindern, die zum Teil noch in Bretterverschlägen, Kellern oder Ruinen hausen müssen. Die Straßen sind meist zerstört, vielfach noch immer auch die Strom- und Wasserleitung. Die bosniakischen Rückkehrer sind meistens arbeitslos, sie haben keine richtige medizinische Versorgung, nur ein Drittel der zerstörten Häuser wurde wieder aufgebaut.

 

"Wir brauchen ein internationales Wiederaufbau- und Wirtschaftsprogramm für Srebrenica und die ethnisch gesäuberten Städte an der Drina. Nur so können die beiden Nationalitäten wieder aufeinander zugehen und zusammenleben. Schon jetzt hat diese Versöhnung in Srebrenica hier und da begonnen", erklärten die drei Sprecherinnen und Sprecher der GfbV International. Es darf nicht länger sein, dass Bosnien und Herzegowina, dass die Hauptopfer der Jugosla-wien-Kriege weiter aus der EU ferngehalten werden. Es kann nicht sein, dass die Weigerung der ethnisch gereinigten, künstlichen Republik Srpska weiter die Wiedervereinigung verhindert, während fast überall in Europa die ethnischen Gemeinschaften zusammenleben. Die vom Westen in Dayton aufgezwungene Zweiteilung des Landes Bosnien muss aufgehoben und durch eine Gesamtföderation von Kantonen ersetzt werden. Wann wird die internationale Gemeinschaft endlich die Festnahme der beiden Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic durchsetzen, wann wird sie dafür sorgen, dass die "kleinen" Kriegsverbrecher aus Polizei und Verwaltung entfernt werden?"

 

T. Zülch erhielt für seine Menschenrechtsarbeit den Silberorden der Republik Bosnien und Herzegowina (1996), den Srebrenica Award Against Genocide der Mütterverbände (2006) und den Sloboda- (Freiheits-) Preis des Internationalen Friedenszentrums in Sarajevo 2006. Publikationen:"Ethnische Säuberung für Großserbien" (Luchterhand, 1993) und "Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit, 16 Antworten auf Peter Handkes Reise nach Serbien", (Steidel-Verlag, 1996).

 

ii Fadila Memisevic, Direktorin der bosnisch-herzegowinischen GfbV-Sektion, führt das Büro in Sarajevo. Sie ist Trägerin des Schweizer Menschenrechtspreises (1996). Dem Vorstand der Sektion gehören Repräsentanten aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften, der Verfolgtenverbände der KZ-Opfer und weiblichen Lagerhäftlinge sowie der Frauen von Srebrenica an. Von 1992 bis 1996 war sie im Göttinger GfbV-Büro für die Koordination von über 100 bosnischen Flüchtlings- und Exilverbänden sowie zahlreichen Menschenrechts- und Hilfskomitees für Bosnien in Mitteleuropa zuständig.

 

Tilman Zülch